In der Buchfassung gibt es keine Anmerkungen, sondern Nebentexte wie kleine abgelegene Kulturfelder (Äcker und Wiesen). Fürs Internet praktischer sind die archaischen Fußnoten, zu denen hin und von denen weg man einfach zu springen vermag.
Die Bilder sind in einer selbständigen Datei gesammelt: Bilder zum Kapitel Heilige Wasser.
Obwohl die Gletschersoziologie, die nicht die Gletscher zum Thema hat, sondern die Abhängigkeit des kalten Gesellschaftlichen von ihnen als dem Bild der Landschaft zeichnet, mit dem Phänomen der Wasserleiten ins Zentrum der Kategorie der Anstrengung vorstößt, scheinen alle Arten und Weisen verbarrikadiert, den Aufriß jener diskursiv durchzuführen. Zwei Fragen lassen sich nur allzu leicht formulieren: a) wie waren die Kräfte individuell disponiert und sozial organisiert, damit die Leiten [1] gebaut werden konnten, und b) in welchem Gelände kann die Grenze gezogen werden, hinter deren Schwierigkeit ein Bau undenkbar wird? Für beide aber gilt, daß zu wenig Fakten und argumentativ verfügbare Erfahrungen vorliegen, die in der Beantwortung eindeutige Gewißheiten zuließen. Zur ersten können nur winzige Andeutungen gemacht werden, die sich in der Darstellung der zweiten aufheben, wo nur noch Bilder exemplarisch zu sprechen vermögen. Was jene körperliche Kraft anbelangt, so war der Bau der Wege zwar ebenso schwierig und gefährlich wie derjenige der Bisses; aber nur im Anblick der letzteren wird die Anstrengung augenfällig und damit wie gestört und auf Ansätze reduziert auch immer kritisch deutbar, weil die scheußlichsten Wege, die die Dörfer miteinander verbanden, heute entweder überbaut sind oder in ein gemäßigteres Gelände verlegt wurden. [2]
Der hartnäckigste Gedanke, der sich bei der Begegnung dieser Konstruktionen einstellt, ist der nach der Brutalität und Gewalttätigkeit innerhalb der Gesellschaften, die solche Gebilde in die Welt pflanzen: da es dem Laien unmöglich scheint, in solch gefährlichem Gelände solche wackeligen Techniken rational, also mit einem umfassenden Schutz gegenüber den Arbeitenden einzusetzen, bleibt nur die Vorstellung halbwegs realistisch, gesellschaftliche Hierarchien forcierten die Auswahl vereinzelter Bauleute, deren Einsatz ums Leben als Opfer begriffen werden könne. Überlebt der einzelne die Arbeit, ist es gut, fällt er, wird er zum Opfer, das die Gesellschaft zu tragen bereit ist. So unerbittlich diese Vorstellung in der Anschauung sich zu Wort melden will, so streng hat man zu erwidern, daß es sich bei ihr um eine Unterstellung handelt, die in der Geschichte und der Struktur des Wallis kein Fundamentum findet. Das einzige, was sich im Umfeld dieses anstößigen Themas mit Fug diskutieren läßt, ist der Umstand, daß es wohl zum Wesen der Bisses gehört, daß sie überhaupt mit dem Opfergebaren korrespondieren. Es steckt dann nicht nur in der religiösen Vernunft, im mythischen Denken und Erzählen die Idee des Opfers, sondern es gehört dieses, das keineswegs auf einer falschen Seite mit dem Selbstopfer verwechselt werden darf, das ein individuelles Selbst entstehen läßt, indem es die primären Bedürfnisse opfert, immer schon zur ökonomischen Notwendigkeit als dem Ursprung der Anstrengung, die das Leben in dieser Landschaft preist. Es wäre ein Fehlschluß, von diesem Zwang in der gesellschaftlichen, dörflichen und korporativen Anstrengung hinüberzuwechseln zum systematischen Akt der Willkür, in der Privilegierte andere, seien sie körperlich Schwächere oder sozial Unterlegene, zum Eigennutz in mißliche Lebenssituationen treiben würden. Denn der objektive Zwang läßt sich rational rekonstruieren, weil ihm auch heute administrativ begegnet werden muß – die Gewalt über einzelne ist eine Qualität der Kraft, die nur projektiv vorgestellt werden kann, dadurch selbstredend aber nicht als unmöglich von ihren Sünden freizusprechen wäre. Die unbändige Kraft, die der Bau und der Unterhalt der Bisses bedingte, zeigt erst dann etwas von ihrer ruhmreichen Qualität, wenn man sie mit der Mazze, dem Zeichen der Unbotmäßigkeit, in Verbindung bringt, in deren Schwung immerhin das schamlose Demonstrativum der Walliser Kraft in der „Öffentlichkeit“, die Burgen der falschen Obrigkeit, zu mahnenden Ruinen abgetragen wurden (das Zeugnis der Ruinen ist nicht der letzte Index der Qualität des Walliser Denkens, eigenproduzierte Fehler nicht über alle Maßen dulden zu wollen).
Trotzdem: Auch wenn einiges aufgeführt werden mag, worin das familiäre Dorfschaftsleben der Systematik des Gewaltmißbrauchs und der Dialektik von Herren und Knechten entzogen wird, weil durch die Not und die geringe Zahl der Wohnrechte alle den gleichen Geboten gehorchen mußten, ist es dem heutigen Gebrechlichen bei jedem gegangenen Schritt ein Rätsel mehr, unter welchen sozialen Umständen die Leiten einstmals gebaut, dann Jahr für Jahr von neuem instand gestellt wurden. Offenbar muß die Frage nach dem Verstehen der Bisses heute beziehungsweise nach ihrer Rätselhaftigkeit in die traditionelle Frage nach der Entfremdung und Verdinglichung eingebettet werden: So wie es immer weiter Technologien gibt, die man blindlings einsetzt, ohne sie im mindesten zu begreifen, ist die Frage nach der Kraft und der Organisationsstruktur der mittelalterlich-neuzeitlichen Wasserleiten unbegreiflich. Es ist in diesem Sinne das Verhältnis neue Technik und Entfremdung nicht gar mehr einzig modern, wenn man sich der Frage nach der Kraft im Bau und alljährlichen Unterhalt solcher Konstruktionen wie der Wasserleiten stellt, die sich nicht zu einer Antwort nötigen lassen will. Das Zauberhafte, Verdinglichte, das auch Anstoß war für Sagen über den Bau sei es durch den Teufel selbst oder durch Hexer, inhäriert den Suonen objektiv, ist nicht romantisch projiziert. [3]
Das Staunen und die Verzauberung bleiben also allen empirischen Anschauungen gegenüber resistent wie auch gegenüber dem, was sich historisch und technisch bereits hat textuell aufzeichnen lassen. Was aber liegt überhaupt vor?
Als Bestandteil der Ökonomie waren die Wasserleiten immer schon auch Bestandteil des Systems des Rechts, das die Bezugsrechte und die Aufwandspflichten regelt. Da dieselben fürs ökonomische Überleben nicht nur der einzelnen, sondern der ganzen Dorfschaften grundlegend waren, wurden sie nach dem Akt der notariellen Abfassung als ein großes Gut in den Archiven geschützt aufbewahrt. Solche Urkunden über die einzelnen Bisses gehen weit ins 14. Jahrhundert zurück; selbstredend wurden sie im praktischen Alltag der Gesellschaft von gewitzigten Analphabeten durch Kerbzeichensysteme ersetzt, die auf Hölzern eingeritzt für jedes Jahr die Mengenangaben genügend präzise dokumentierten, die eine Familie noch schuldete oder zugute hatte. Ans Licht einer allgemeinen Öffentlichkeit treten die schriftlichen Rechtsurkunden bezüglich der Wasserläufe erst im 20. Jahrhundert. [4] Der erste Text über die Bisses, derjenige von Leopold Blotnitzki, hat auf die Schriftstücke also noch nicht Bezug genommen, sondern nur die äußeren Merkmale der Leiten, die ihm die Dorfverwaltungen zukommen ließen, zusammenfassend festgehalten. Mit der Gründung der zwei Geschichtsforschenden Gesellschaften, in denen lateinkundige Priester federführend sich betätigten, werden die einzelnen Urkunden mehr und mehr auch auf deutsch und französisch diskutierbar. Ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts findet das Dynamit, das schon fast fünfzig Jahre früher den Bau der U-Bahn in London ermöglichte, Verwendung im Wallis. [5] Dank dessen konnten die heißesten Passagen mittels kleinen, teilweise auch großen Tunnels (wie vom Nanztal nach Visperterminen, Andereggen 1991), entschärft werden. Man hat sich also vorzustellen, daß der Beginn der Zeit des Sprechens über die Leiten zusammenfällt mit ihrem Zusammenfallen überhaupt. Obwohl das Wasser, das heute an vielen Orten in Tunneln fließt, immer noch und im selben alten Ausmaße seinen Zweck zu erfüllen hat – neue Grundwasserbecken wurden nicht viele gefunden – kann das alte, tief beeindruckende Werk zu einem großen Teil nur in der historisierenden Reproduktion eingesehen werden. Mit Abstand die eindrücklichsten Fotos knipste Charles Paris aus Neuenburg anläßlich der allerletzten Ingangsetzung des Bisses von Savièse 1934, abgedruckt in Mariétan 1948 und Paris 1988. Diese alten Aufnahmen erscheinen technisch neu aufpoliert in den Actes 1995, zusammen mit anderen alten und neuen Fotos, eingefügt aber in die teils interessanten, andernteils eher wenig informierten Referatstexte über die Bisses sowohl im Wallis wie auch im Bündnerland und im Aostatal (wenn der Bahnhofvorstand von Ausserberg in einem Radiogespräch das Bietsch- und das Baltschiedertal miteinander verwechselt, ist das komisch – wenn solches in einer wissenschaftlichen Dokumentation geschieht, stiftet es Verwirrung). Da im Oberwallis östlich von Fiesch und Ernen sowie im Unterwallis westlich und nordwestlich von Martigny das Klima weit mehr Niederschläge durchläßt als im größeren anderen Teil des Rhonetales, existieren in jenen Gebieten nur kleine, eher gewöhnliche Wasserfuhren. Die Geschichte des westlichsten Bisses dokumentiert Berard 1982; über die östlichsten, teuflisch gefährlichen aus der Massaschlucht am Hang von Bitsch, Ried und Greich/Mörel gibt es noch keine Monographie. Eine große Sammlung über die Suonen an den exotisch-wüstenhaften Südhängen des Bietschhorns leistet, leider vom Verlag sträflich im Stich gelassen, Maurus Schmid 1994. Man hat in der Lektüre Mühe, selbständig zwischen dem Phantastischen und dem Glaubwürdigen unterscheiden zu können. Eine zentrale Frage betrifft das Chännilwasser, eine abstruse Suon, die teils nur als Sage durch die Jahrhunderte geistert, bei Schmid wie als erwiesener Bau aber zur Darstellung gelangt. Dieses Objekt sowohl der Sage wie der nicht minder phantastischen Technikgeschichte dient hier als Vehikel im schwindligen Versuch der Beantwortung der Frage nach den Grenzen der Möglichkeit des Baus von Wasserleiten im Gelände.
Man darf zur Kenntnis nehmen, daß im Ausserberger Dorfarchiv ein Dokument berichtet, bei der Instandstellung des Chännilwassers, der Suon aus dem Bietschtal nach Leiggern und Ausserberg, seien im Jahr 1311 zwölf Männer zu Tode gefallen. Ob die Leitung in früheren Jahren schon fertiggestellt war oder daraufhin noch fertiggestellt wurde, weiß man nicht. Was aber vorhanden ist und durch den Bergführerautor Maurus Schmid empirisch nachgeprüft werden konnte, sind Spuren des Baus, insbesondere in die Felswände geschlagene Löcher, Toggenlöcher, in welche die Tragbalken, die in der Natur krummgewachsenen Chrapfen, auf die die ausgehöhlten Baumstämme gelegt wurden, montiert wurden. Diesen Spuren gemäß soll es zwei Leitungen beziehungsweise den Versuch zum Bau von solchen gegeben haben: die eine ging knapp über den Nasulöchern der Wand entlang, die andere, die dieses Wasser auch noch nutzte, knapp unterhalb. Was man sich vorzustellen hat, zeigen die Fotos, die entweder im Talgrund aufgenommen wurden oder bei Prag und bei Seilegge, einer etwas exponierten Stelle, die in den Fotos zum Bietschhorn von der anderen Rhonetalseite gezeigt wird. Auch die späteren Fotos des Bisse von Savièse und desjenigen von Montana sollen nur erwägenswert machen, ob eine so gefährliche Suon wie das Chännilwasser denkbar ist. [6]
Die Wege im Bietschtal sind in einem schrecklichen Zustand. Die beste Foto des Tals und des Laufes des Chännilwassers ergebe sich im Gebiet des Seileggens, wenn man dahin nur gelangen könnte. Überhaupt wäre die Wanderung von Hohtenn über Joli und Prag ins Bietschi und von da entweder über den Bärenfad nach Leiggern
und Ausserberg oder durchs Tal wieder hinaus direkt nach
Ausserberg oder Hohtenn eine der schönsten im Wallis, wenn einige Stellen, deren Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden sollte, besser unter Kontrolle gehalten würden. Nicht besonders gefährlich, aber erwähnenswert sind ein Tritt zwischen der Jolialp und Prag und der ganze Hang von da hinunter nach der Rarnerkumme (als heutige Wanderroute ohne Bietschtal); gefährlich sind die
Absturzpassage am Seilegge und der Bärefad, der wohl nur in Steblers Kopf spukte (Zeller 1958, 8 beschreibt ihn noch), aber auch, gänzlich unverzeihlich, zwei Stellen auf dem gewöhnlichen Bietschtalweg in der Nähe der Bachquerung (wo Wagemutige ein winziges Weglein zu den Nasulöchern begehen), die einen zwingen, in einer Siebentagevelorennenhaltung mit geschlossenen Augen senkrechte
Hangabstürze zu passieren. Obwohl Bauten an diesen Stellen geleistet wurden, sind solche Stellen weder ahnungslosen Touristen noch den einheimischen Hirt-Innen zuzumuten.
Wie steht’s geschrieben?
„Der Weg von Leiggern ins Bietschtal steigt zunächst direkt nördlich über die Weide. In einer guten halben Stunde erreicht man den Bitzitorru [heute Trosibodu], einen bewaldeten Querkamm, wo man auf einmal das ganze Bietschtal mit dem majestätischen Bietschhorn vor sich hat [nur an einer hoch gelegenen Stelle sieht man frei von Bäumen ins ganze Tal]. Ein überwältigenderes… etc. Durch eine steile, mit Gebüsch bewachsene Schlucht kann man [kann man?] vom Bitzitorru direkt ins Bietschtal hinabgelangen. Bequemer [hört! hört!] ist jedoch der Weg [sic] über den Bärenfad. Man steigt zu diesem Behufe auf dem Grate eine weitere Stunde über die trockene, mit uralten Tannen und Lärchen bewachsene Rinderalp empor und stößt dann auf den Bärenfad, einen passablen [sic!] Schäferweg [recte: eine miserable Schäferhundefährte], der durch die Brunnen und die Rigga bis ins Rämi führt. Eine am Weg liegende Höhle heißt das Bärenloch.“ (Stebler 1914, 36f) Mein Rat: trau keinem akademisierten Hirten, wirf’N zu den Rätseln dieses Lebens, aber laß’N laufn … über den Weg der senkrechten Schlucht mit den dürren Gebüschen als den einzigen Griffen. (Der Walliser Logiker Paul Ruppen, dessen Werke die Gebietsgrenzen zu massiv transzendieren als daß sie hier rezipiert werden könnten, der aber selbst in die Nasulöcher gestiegen war, von unten, und weit im Innern die Verbauungen studieren konnte, erzählt, die Ausserberger Touristenführer würden ab und zu, bei schlechtem Wetter, via Leiggern eine Klettertour von oben zu den Nasulöchern durchführen, mit vielen Haken und andern technischen Accessoires.) [7]
Merkhammer
Alltag und Nacht in vorindustrialisierten Gesellschaften werden gewöhnlich als einigermaßen ruhig vorgestellt, wenn sie nicht gar als stille Gefilde in der Phantasie den Boden abzugeben haben. Wegen der Steilheit des Geländes waren im Wallis klopfend-klapprige Reitergespanne zwar nicht unvorstellbar, aber eher selten anzutreffen: neben dem Salztransport auf Wagen wurden Handelswaren wie Wein, feine Stoffe, Schmuck und Haushaltsgeräte auf Saum-, d. h. Lasttieren gesäumt, wofür sich weniger die Pferde als deren Kreuzprodukte Maultiere und Maulesel eigneten (Arnold 1947, Dubois 1965). Bis in die Generation von Fux dem Schriftsteller konnte sich im Gebiet Brig-Visp nur ein einziger Kutschenbetrieb als Familienunternehmen halten, der Reisen über den Simplon und die Furka bzw. die Grimsel organisierte. Waren die Dorfschaften somit, wenn man die Tierherden noch auf den Alpen wähnt, eher frei von Lärm, wie er auf dem Pflaster anderer Gesellschaften dröhnte und dröhnt? Weit daneben! Gerade die Funktionstüchtigkeit der stillen Wässer-Gewässer verlangte eine Installation, die wegen ihres Doppelcharakters, an einen Zweck gebunden zu sein und durch einen gewissen Gewöhnungseffekt eine gefühlige Stimmung zu erzeugen, die die Werbung heute kolonisiert, recht modern anmutet. Man hat sich vorzustellen das idyllische Eyholz neben dem winzigen Städtchen Visp oder dieses selbst, wie die BewohnerInnen ausgesetzt sind der Zeichengabe der Merkhämmer – dafür also, daß niemand eine Leitung sofort flicken gehen müsse, weil durch einen Bruch einerseits kein Wasser seinem Bestimmungsort zugeführt, andererseits unterhalb der Bruchstelle dasselbe Wasser schnell einmal großen Schaden anrichten würde – folgender monstruösen Anzahl Suonen: aus dem Gredetschi Richtung Birgisch 8 und Richtung Mund 14, aus dem Baltschiedertal Richtung Eggerberg und Lalden 5, Richtung Ausserberg mit Leiggern und Baltschieder 10, aus dem Bietschi nach Raron, St. German und Ausserberg 7, auf der eigenen Rhonetalseite aus dem wilden Nanztal hoch oben Richtung Visperterminen 2, etwas tiefer zum Rohrberg 1, schließlich unten nach Eyholz 1. War das nun ein Lärmen, bis zu 48 tätige Merkhämmer in allen Lüften, in allen Tempi, Klangfarben und Lautstärkegraden – oder haben wir zu sinnieren über den Ursprung der Minimalmusic nicht in Comix, Hamburgern und Coca Cola, sondern in der Mültikultur des streng überwachten Walliser Wasserwirtschaftswesens? Man kann auch heute noch etwas von dieser akustischen Szenerie aufschnappen, wenn es an langen Frühsommerabenden, wo der hohe Schnee noch keine ausführlichen Touren zuläßt, gelingt, knappe fünfhundert Meter über dem Talgrund auf den letzten Zug warten zu dürfen und der Wind weniger das ohrenbeleidigende Produkt der Saucen von Shell, Esso, Tamoil etc. mehr emporträgt als vereinzelte, isolierte Trommelübungen aus verschiedenen Himmelsrichtungen, auch verzagte Übungen auf andern Instrumenten und Glockenschläglein aller Arten, inklusive, ideologisch wie ekelhaft auch immer, Schüssen aus dem Schießstand übers Tal. Das ist zwar keine Merkhammermusik mehr, aber auch keine schon der Dampfhammer aus dem Radio. Das lautliche Gebilde im großen Raum versetzt die zweckgebundenen Zielstrebigkeiten, selbst die des Schießens, außerhalb des Reiches der Zwecke, wo dieselben befragbar werden.
[1] Zur Terminologie beansprucht Eichenberger 1940 bereits im Titel, einen Beitrag zu leisten; es genügt aber, sie den jeweiligen Dialekten zuzuordnen, ohne Gewißheit, ihre ursprüngliche Bedeutung gänzlich enträtselt zu haben: le bisse ist der Ausdruck im französischen Teil, die Suon im deutschen (wegen des Dusselns, der spontanen Anpassung des Walliser Dialekts an die andern der Deutschschweiz, ist heute gebräuchlicher Wasserleite und Wässerwasser).
[2] Wieso es im Wallis so viele künstliche Wasserleitungen gibt? Als der Heiland mit Petrus die Welt bereiste, kam er auch in die Schweiz. Hinter der Hand fragte Petrus das Volk der Geissenpeterlis, welchen Wunsch sie vielleicht noch hätten, damit er den Herrn um dessen Erfüllung bitten könne. – Die Schweizer sagten dem großen Petrus, daß sie lieber etwas weniger Eis und Gletscher in den Tälern hätten, dafür mehr Felsen mit Gemsen und saftige Wiesen. Petrus trug dem Herrn die Bitte vor, und der Wunsch ging schnell in Erfüllung. Wo früher Schnee und Eis war, dehnten sich nun weite Felder und Äcker aus, auf denen der Herr üppige Pflanzen sprießen ließ. Weil aber die kühlen Firne und Gletscher verschwunden waren, wurde es jetzt viel heißer in Berg und Tal, und die Gräser auf den Matten wurden bald rot und dürr unter den Strahlen der Sonne. Bevor der Herrgott weiterreiste, fragte er das Volk, ob es zufrieden sei. Oh nein! Es nannte ihm die neue Plage und bat ihn um Hilfe. Der Herr sprach: „Die Sache ist ganz einfach, das Land muß gewässert werden. Soll ich es tun, oder wollt ihr es tun?“ Alle Einwohner sagten klar und deutlich: “Herr, Du hast bis anhin weise an uns getan, walte und schalte Du auch weiter.“ Alle? Nur die Walliser blieben stumm und kamen nicht aus dem Sinnen und Wägen. Hinter des Herren Rücken schlich Petrus zu den Wallisern, tupfte ihnen auf die Schulter und sprach: „Laßt nur getrost den Herrn walten, er meint es gut mit euch und wird euch nicht schäbig behandeln, denn er ist ja sozusagen auch ein Walliser.“ – „Was, ein Walliser ist er? Nein, wenn das so ist, dann wässern wir lieber selber und alleine.“ Seit dieser Zeit wässert in der ganzen Schweiz der Heiland, im Wallis aber wässern die Walliser selbst fast jeden Tag, in besonders trockenen Gebieten am Silvester zum letztenmal im Jahr, am Neujahr zum erstenmal.
[3] Die bloße Anschauung der Verhältnisse treibt zur heiklen Frage, wie denn das Wissen über die Bisses in Gegenden zu transferieren wäre, wo der Charakter der Landschaft ähnlich, das Verhalten der Bevölkerung aber nicht auf eine optimale Wasserversorgung ausgerichtet sich zeigt, wo demzufolge das Wasser in der sozialen Reproduktion, d. h. im gewöhnlichen Alltag, wie aber auch in der Erhaltung des Pflanzenbestands und der Bodenbeschaffenheit mangelt. Die Bedingungen der Möglichkeit der Missionierung sind deswegen nur selten gegeben, weil der Walliser Wasserdrang, der ähnlich nur in den Pyrenäen und in Chile zu beobachten wäre, mit einer spezifischen Voraussetzung verschmolzen ist, die bezüglich der globalen Bevölkerung ganz offenkundig nicht verallgemeinert werden darf. Denn die Bisses wurden in alten Zeiten kaum je als Trinkwasserkanäle gebaut, weil die Dörfer sowieso nur dort sich breitmachten, wo Quellwasser vorhanden war; ihr Zweck war immer schon einzig der, die winzigen privaten und dorfschaftlichen Grasflecken zu bewässern, die das mehr als halbjährlich dauernde Überwintern der familiären Kuh mit Heu zu garantieren hatten. Die Milchprodukte der Kuh aber, und das ist die Schwierigkeit, sind wegen der unterschiedlichen genetischen Disposition nicht für alle Menschen in allen Weltgegenden gleich gut verdaulich. Das klingt komisch, ist aber bei der Einschätzung fremder Ökonomien ein ernst zu nehmender Faktor, der zur Einschränkung auf Nahrungsmittel und Tierfutter nötigt, die im Gegensatz zum Gras eine kontinuierliche Wasserversorgung gar nicht verlangen. Es darf dann nicht mehr erstaunen, daß die Frage nach der Wasserversorgung in solchen Gegenden, wo Milchprodukte nicht als Nahrungsmittel genutzt werden können, gesamtgesellschaftlich keineswegs so verbissen verfolgt wird wie im Wallis.
Zusatz 18. Januar 2002, ein Artikel aus der Zeit: Stimmts? Krank durch Milch /Von Christoph Drösser / Stimmt es, dass Asiaten keine Kuhmilch vertragen und sich auch aus diesem Grund vor abendländischem Käse ekeln? / Sylvia Magotsch, Nienbüttel / Der Ekel ist sicherlich auch kulturell bedingt - dass verschimmelte Milch eine Delikatesse sein kann, ist ja nicht für alle Menschen selbstverständlich. Zur Unverträglichkeit: 75 Prozent der erwachsenen Menschen auf der Erde können Milchzucker (Laktose) nicht richtig verarbeiten, weil sie nach der Kindheit das entsprechende Enzym (Laktase) verloren haben. Dieses spaltet im Dünndarm den Doppelzucker aus der Milch in einfache Zucker. Fehlt es, gelangt unverdaute Laktose in den Enddarm und wird dort ein gefundenes Fressen für Bakterien - Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall sind die Folge. Entwicklungsgeschichtlich gesehen, ist das nicht weiter schlimm - die Frühmenschen verzehrten nach der Kindheit keine Milchprodukte mehr, das Enzym war also überflüssig. Erst mit der Einführung der Landwirtschaft vor etwa 12 000 Jahren begannen auch Erwachsene regelmäßig Milch zu trinken. Dass sich die genetisch bedingte Laktase-Persistenz, also die Fähigkeit, auch im Erwachsenenalter Milch zu verdauen, vor allem in Nordeuropa durchsetzte, liegt wohl daran, dass wir besonders auf Milch als Kalziumlieferant angewiesen sind. Während in unseren Breiten nur etwa 10 Prozent der Menschen Laktose nicht vertragen, sind es im Süden Europas 60 Prozent, in Schwarzafrika 95 Prozent und in Ländern wie Thailand fast 100 Prozent. Die genetische Ursache der Laktose-Unverträglichkeit ist soeben weitgehend geklärt worden: In dieser Woche berichten Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Nature Genetics von zwei dafür verantwortlichen genetischen Varianten, die sie in einer Reihenuntersuchung von finnischen Familien ausgemacht haben. Die Adressen für "Stimmt's"-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt's?, 20079 Hamburg oder stimmts@zeit.de . Das "Stimmt's?"-Archiv mit allen bisher erschienenen Kolumnen findet man online unter www.zeit.de/stimmts / (c) DIE ZEIT 04/2002
[4] Und die schöne Literatur? Der Visper Pierre Imhasly motzt herzzerbrechend über den Maultierkult (von dem nur sehr wenig registriert werden kann, wenn man von außen her sich mit dem Wallis beschäftigt), Maurice Chappaz, der unterhalb des großen Bisse von Levron aufgewachsen war und einige Zeit als Rebbauer oder Rebgutverwalter arbeitete, ignoriert die Wasserfrage als Dichter, der lebendige Menschen charakterisiert, streift sie in Bille 1983, 19f als Dokumentarist nur kurz, der andere Maurice, Zermatten, will ein modern gelebtes Wallis zeigen (aber daß in einem nicht gelesenen Text eine Wasserleite das Thema abgibt, ist nicht unmöglich); Fux, der das Gebiet der gefährlichen Wässerwasser für Visperterminen als Förster wie seinen Hosensack gekannt haben mußte, nimmt nicht einmal in seinen Wanderroutenbeschreibungen (1963) Stellung zu den brenzligen Wegen, die noch heute den Nordhang des Gebidem durchziehen. (Die außerschweizerische Großschnulze Heers noch aus dem letzten Jahrhundert war in seiner Zeit genau so erfolgreich, wie sie heute durch Falschheit zum Brechreiz nötigt – aber als Film offenbar gefällt.)
[5] Es wurden schon früher, jedenfalls Anfang 18. Jahrhundert, Sprengungen beim Wegbau durchgeführt, aber nur mit Schwarzpulver.
In alten Zeiten floß eine gute Quelle bei den Rote Chüe, in der Nähe der Färricha, der Schafpferche, als der Weinbau auf dieser Höhe auch schon Legende war (die Karte nennt das Gebiet auch Arbol, nach einem ebenfalls sagenhaften verschütteten Älpchen beziehungsweise eben auch des Winters bewohnten Dörfchen). Als eines Frühjahrs zwei Brüder wie üblich das Wasser zu teilen hatten, in eine Leitung nach Raaft und eine andere nach Leiggern, schlugen sich die beiden, weil sie sich über die Mengenanteile nicht einigen konnten, tot. Von da an versiegte die gute Quelle. Später wurde über das Wasser aus den Nasulöchern im Bietschtal gerätselt. Dieser hinzugefügten Sage nach sollen die Ausserberger in die äußerst gefährlich gelegenen Löcher hineingegangen sein, wo sie das Wasser mit Hölzern und Mauern zurückzustauen versuchten, damit es statt ungenutzt ins Bietschtal wieder auf der Seite von Leiggern flöße. Kurz vor dem Jahr 1938 ging dann in der Tat ein Ausserberger hinein, und er sah: einen unterirdischen See, und nach einer halben Stunde Gehen am Ufer – die sagenumwobenen Balken samt den ausgemeißelten Rinnen zu deren Verankerung. Die Löcher sind vom Walliser Verein für Höhlenforschung untersucht worden; einen Bericht gibt es aber nicht. (M. Schmid 1994, 85)
Stephan Schmid schreibt schon 1928: „In den Jahren meiner priesterlichen Wirksamkeit in Ausserberg 1910–1924 haben die Ausserberger gewaltige Anstrengungen gemacht, sich eine vollständige Wasserversorgung zu sichern [die wegen Erdbeben ramponiert war]. Die Versorgung mit Wässerwasser gelang vollständig (…), die Trinkwasserversorgung jedoch konnte nicht gelöst werden, trotz Jahrzehnte langem Studium und vielen praktischen Versuchen. In diesen Jahren des Studierens und ‘Wasserschmeckens’ (…) wurde ich am 2. Februar 1920 darauf aufmerksam gemacht, daß am Schreebach [der aus den Nasulöchern kommt] ein tiefer ‘Krachen’ in den Berg hineinführe; niemand wisse, wie tief dieser Krachen sei. Nun stieg im kleinen Rate der Wassersucher rasch ein neues, herrliches Projekt auf: Schreebach durch einen Tunnel anbohren. Man wisse ja nicht, wie weit das Loch am Schreebach ins Bergesinnere führe; vielleicht käme man schon mit einem ganz kurzen Tunnel ans Ziel; der Schlund am Schreebach müsse untersucht werden etc. Bereits am 4. Februar gleichen Jahres stiegen unser 4 Mann: August Theler, Theodor Theler, Simon Kämpfen und ich, bergtüchtig ausgerüstet, in die steilen Felswände zum Schreebach und drangen unternehmungslustig in die ungeheure Felsennase vor. So fanden wir, was wie ein Titanenscherz in der Sage lag: Die Verbauungen der Ausserberger am Schreebach.“ (Stephan Schmid 1928, 439f)
[7] Eine gute Einsicht in die Gefährlichkeit der Wand des Chännilwassers aus der Ferne ergibt sich von der Griebelalp her und vom Emshorn; noch weiter aus der Ferne aber mit der besseren Parallelität zur Wand vom Illhorn. Der freizügigste Blick in die Bietschtalspalte gewährt das Märetschihorn.