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4 Formabläufe

Drei Momente erschweren das Begreifen der Formen der indischen Musik:

  1. Die stolz praktizierte Versteifung auf den persönlichen Musikunterricht selbst auf derjenigen Ebene, wo es nur um die Einübung des Instruments geht, bewirkt eine irrationale Abweisung der Schrift sowohl im musikalisch-aufzeichnenden wie – und das zementiert die Irrationalität schlimmer – in den diskursiven, d. h. begrifflichen Bereichen der Musikgeschichte und Musikkritik.
  2. Die indische Musik ist strikt auf den Grundton bezogen; es gibt kein Spiel, bei dem nicht auch die Tamboura mitklingen könnte. Ihre Saiten, die immer nur leer gespielt werden, sind auf den Grundton und die Dominante gestimmt, bei geeigneten Ragas auf die Quarte und bei solchen, die weder Quarte noch Quinte enthalten nur auf den Grundton, zuweilen mit der Septime (z. B. beim Raga Hindola). Fürs Sitarspiel sieht eine solche Bordunstimmung deswegen heikel aus, weil die Dominantsaiten nicht bis zur Septime gespannt werden können; in den fraglichen Fällen gilt es dann wohl, möglichst nur die Bordunsaiten des Grundtons anzuschlagen.
  3. Da die Improvisation sehr streng als Interpretation des Ragas verstanden wird, der selbst sich als ein komplexes Gebilde mit einer kohärenten Gefühlsstruktur darstellt, sind die kleinen Formen sekundär, außer diejenigen Wendungen und Phrasen, die wesentlich zum betreffenden Raga gehören. Doch welche das sind, ist wegen der Schriftfeindlichkeit nur schwer zu entscheiden: es kann von einer Autoritätsperson immer gesagt werden, eine improvisierte Wendung sei deplaziert zum Einsatz gekommen.

Trotz diesen Schwierigkeiten lässt sich ein praktikables Formverständnis gewinnen, wenn die indische Musik der europäischen und der arabischen gegenübergestellt wird.

4. 1 Bemerkung zur europäischen Musik

Die mehrstimmigen Musikformen des europäischen Mittelalters können als Effekt der notierten Organum-Praxis gesehen werden, in der ein dem Sprachduktus folgender Kirchengesang Ton für Ton im Abstand einer darunterliegenden Quarte oder Quinte mit einer zweiten Stimme „begleitet“ wird. Die sukzessive durch kühne Konstruktionen ausgebauten Polyphonien erfahren spätestens Ende des 15. Jahrhunderts eine Irritation, indem die Komponisten neben den kirchlich obligaten polyphonen auch homophone Stücke zu schreiben beginnen (religiöse und weltliche), in denen Akkordinstrumente, insbesondere die Laute, ihre Spuren hinterlassen, ganz deutlich die einer einfachen Kadenzharmonik. Im Verlauf von nicht weniger als zwei Jahrhunderten wird das modale Tonsystem von der Tonalität verdrängt. Zu den Formgesetzen der klassisch-romantischen europäischen Kunstmusik gehören dann

  1. eine Rhythmik, die der Einfachheit der Schrittfolgen der kollektiven Tänze bzw. den Versformen der griechisch-römischen Antike Genüge tut
  2. eine Melodik, die sich sowohl den Rhythmen wie der tonalen Harmonik unterordnet
  3. ein Motivbau und eine Motivverarbeitung, die den Melodiethemen normalerweise nichts hinzufügen
  4. eine dialektische Themenvariabilität, die die Oppositionspaare Vorder- & Nachsatz, hinauf- & herabsteigende Linie, schnelle & und langsame bzw. akzentuierte & ausgehaltene Töne etc. bis in die letzten Zellen hinein favorisiert.

Die Formen selbst, Fuge, Lied, Tanz, Sonatensatzform und Variationensatz werden zu dem Zeitpunkt fragwürdig, da die Herrschaftsformen der Tonbezüge in der Tonalität durch den Serialismus außer Kraft gesetzt werden. In dieser Musik heute müssen nicht nur die Tonverhältnisse praktisch bei jedem Stück von neuem festgelegt werden, sondern desgleichen auch die Formen, die nun nicht mehr leicht erkennbar und definierbar erscheinen.

4. 2 Bemerkung zur arabischen Musik

Obwohl hier nichts Verbindliches zur arabischen Musik gesagt werden kann [1] , gibt es einige Momente, durch die sie sich charakterisieren lässt und von denen sich die indische deutlich unterscheidet – und die folglich ein Sitarspieler zu vermeiden hat. Die festen Melodiebögen, die der Improvisation als Variations- und Variantenmodelle dienen, haben die Quarten und Quinten als enge Zieltöne. Zum Formgesetz gehört neben der Quart- bzw. Quintbezogenheit einschränkend nur, dass die Summe der realisierten Phrasen, Motive und Muster als eine gewisse Balance erscheint; die ganze Melodie oder motivische Teile davon können im metrischen Raum beliebig gedehnt werden, sind also nicht an Zyklen gebunden. Es gibt Melodien, die ohne Metrum vorgetragen werden, solche, die mit dem Metrum korrespondieren (vor allem bei Liedern) und solche, denen ein Metrum in der Weise aufgesetzt wird, dass sich die Melodie oder ihre Teile nach diesem zu richten haben (übernommene Melodien in neuen Rhythmen). In der persischen Musik gehört es zur gewöhnlichen Aufführung, dass die einzelnen Sätze eines Stückes nicht unähnlich der europäischen Suite oder Symphonie verschiedene Grundtöne aufweisen und in verschiedenen Dastgahs (i. e. Maqam, Raga, Modus) gespielt werden. Sofern die einzelnen Sätze in ihrem eigenen Verlauf verschiedene Dastgahs anspielen, hat man wohl von einem modulierenden Formwillen zu sprechen. In der indischen Musik ist dieser nur in einer befremdlichen Weise vorzufinden, als gekünstelte Mischung von Ragas.

4. 3 Formen der hindustanischen Musik

Als erstes fällt bei der nordindischen Musik auf, dass sie manchmal ohne Metrum gespielt wird und so von Uneingeweihten bald einmal als langweilig empfunden wird, meistens aber in sehr strengen Rhythmen in Erscheinung tritt, die einem den widersprüchlichen Eindruck vermitteln, es würde sowohl alles auf simpelste Weise immer wieder wiederholt wie auch auf unnachvollziehbare Weise – in äußerst diffizilen Rhythmen – in Szene gesetzt. Das eine ist der Formalität des Alaps geschuldet, das andere der indischen Rhythmik, den Talas.

4. 3. 1 Der Alap

Der Alap existiert in drei Varianten, von denen die zweite und dritte in der südindischen Musik wenig verbreitet sind. Aber auch für die hindustanische gilt, dass die Grenzen zwischen den Typen als extrem fließend zu betrachten sind.

  1. Im Alap wird das Material des Ragas präsentiert. Im geringsten Fall, dem manchmal auch ein besonderer Name zukommt, wird nur die Tonreihe hinauf und hinunter vorgetragen, was musikalisch bereits informativ wirkt, da in der einen Richtung, normalerweise in der aufsteigenden, bei den meisten Ragas einer oder mehrere Töne entweder nicht oder dann alteriert (diatonisch oder mikrotonisch) und je nach Richtung öfters Töne nur in besonderen Wendungen gespielt werden. Gewöhnlich dauert diese Präsentation, die auch die ragatypischen Motive und Phrasen zu erkennen geben soll, zwischen zwei und fünf Minuten. Sie steht jedesmal am Anfang eines „Stückes“, das überhaupt auf einem Raga fußt, mithin der Intention nach klassisch sein will. [2] Zu den genannten Strukturmerkmalen eines Ragas gehören noch die Haupttöne und diejenigen, mit denen Melodien beginnen oder enden. Diese Töne, die mit dem Grundton und der Quint, also den permanent erklingenden Borduntönen konkurrieren, sofern sie mit ihnen nicht identisch sind, bilden den Grund dafür, dass man beim Raga nur schwerlich von einem Modus sprechen kann: sein Beziehungsgefüge hat mehrere Zentren. Es existieren deswegen auch keine Melodien in einem eigentlichen Dur, Moll, Phrygisch, Dorisch oder Lydisch, wenn auch gerade die Tönen dieser Reihen zum Einsatz kommen.
  2. Bei einer Konzertaufführung ist der erste Alap sehr lang, bis zur Überschreitung einer halben Stunde.
  3. Der Alap kann auch als eigenständiges Stück gespielt werden; dann ist seine zeitliche Dauer musiktheoretisch kaum eingrenzbar.

Die Abläufe der zwei letzteren Alapformen sind nicht allgemeinen strengen Regeln unterworfen. Als Prinzipien gelten, dass die Shrutis des Ragas ohne Intonationsschwankungen vorgeführt werden, indem von der mittleren Oktave ausgehend schrittweise zuerst der obere Tetrachord, dann der tiefere, dann beide zusammen, dann die obere Oktave und schließlich die unterste vorgeführt werden. (Das Sitarspiel ist in der tiefsten Oktave sehr schwierig; viele Konzertvirtuosen meiden das, worin Ravi Shankar als herausragender Meister gilt.) Dazu gehört, dass auch die verschiedenen Spieltechniken wie in einem Katalog aufgelistet werden. [3] Die Pointe ist, dass sich ein Universum öffnen soll, dessen Tonbilder gleich stabil bleiben wie diejenigen der Sterne. Da der Schlussteil des Alaps – der Abhog – oft in stupender Virtuosität gipfelt, ist er bereits metrisiert, wenn auch noch nicht in einem definierten Metrum (Tala) und noch ohne Tablabegleitung; er bildet den Übergang zu den Kompositionen.

Ungleich den falschen Vorstellungen ist die musikalische Verwirklichung eines Alaps äußerst schwierig, da die saubere Intonation absolute Beherrschung des Instruments voraussetzt und im stetig erfinderischen Fortgang des Spiels – der Entwicklung des Ragas – nicht auf vordergründig beeindruckende virtuose Tonreihungen zurückgegriffen werden kann. Beispielhaft für den zweiten Typus wäre Shahid Parvez, The Art of The Sitar, Seven Seas 1990 mit dem Raga Yaman und für den dritten die drei Alap-Einspielungen auf einer Doppel-CD Ustad Ali Akbar Khan Plays Alap – A Sarod Solo, Shri Rag, Pilu Baroowa, Ragini Iman Kalyan, Ammp 1993 und Zia Mohiuddin Dagar, Rudra Vina, Raga Yaman, Nimbus 1991.

4. 3. 2 Die Melodie in den Talas, den rhythmischen Zyklen

Der indische Begriff der Komposition ist mit dem europäischen deswegen kaum vergleichbar, weil nach der Wahl des Ragas und des Talas die Kompositionsstruktur kaum mehr tiefgreifend durch ein kompositorisches Subjekt bestimmt werden kann. Streng genommen bleibt nur noch die Auswahl von drei verschiedenen Tempi übrig, wobei entweder das schnellste durch den Schluss des Alaps vorgegeben ist oder eine langsame Komposition im selben Raga bei hinzugefügten Stücken noch zweimal verdoppelt werden kann.

Einer der einfachsten Tala heißt Teental. Dies ist ein Zyklus von 4 mal 4 Vierteln. Wenn sich damit auch komplizierte Musik machen lässt – ein Marsch entsteht nie. [4] Denn wie im Raga die Melodietöne komplex gewichtet sind, stehen auch im Tala nach euroamerikanischer Musikerfahrung die betonten Teile verquer. Wenn das x (mit dem Namen Sam) für den Anfang des Zyklus steht, der bei fast allen Talas betont ist, so bedeutet eine 0 unbetont, eine 2 und eine 3 etc. betont. Der Tala Teental hat dann folgende Form:

|| :

1 2 3 4

5 6 7 8

9 10 11 12

13 14 15 16 : ||

x

2

0

3

Die Komposition kann an jeder beliebigen Stelle einsetzen, muss aber berücksichtigen, dass auf den ersten Schlag des Zyklus einer der Haupttöne des Ragas fällt. Musikalisch interessant ist natürlich die lange, nicht akzentuierte Phase mit dem unbetonten Schlag 9: hier realisieren sich durch teuflische Synkopisierungshaufen die Nervenpunkte der indischen Musik, so dass einer ungeübten Hörerschaft leicht einmal das Hören und Sehen vergeht und die Trivialität des Talas mitnichten mehr als durchschaubar erscheint.

Die Länge der Melodie oder Komposition orientiert sich an pragmatischen Werten; der Umfang von weniger als zwei Zyklen ist wohl eher selten.

Meistens folgen die Kompositionen einem Schematismus, der auch für die einfachsten Übungsmelodien eines Ragas gilt. Durch ihn sind sie zweigeteilt in einen Sthay, der sich in der mittleren Oktave bewegt und einen Antara in der oberen. [5]

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[1] Vgl. Kuckertz (1970) und Elsner (1989); beim letzteren findet sich die geläufige Literatur.

[2] Es ist häufig, dass nach einem Alap mehrere „Stücke“ bzw. Kompositionen im selben Raga aufeinander folgen.

[3] Solche Kataloge enthält Miner (1993) fürs 19. Jahrhundert.

[4] Der Antimilitarismus der indischen Musik ist in einen sachlichen Zusammenhang eingeschrieben.

[5] Im Alap heißen die ersten zwei Teile ebenso Sthay und Antara. Bei notierten Stücken ist es deswegen nicht immer klar, ob es sich um das Beispiel eines Alaps handelt, ein Übungsstück zum Erlernen eines Ragas (Sargam) oder eine mehr oder weniger durchgebildete Komposition.

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