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3 Die 22 Shrutis

Bei der Fixierung der Shrutis steht ganz zu Beginn der Widerspruch, dass einerseits das Hörbewusstsein nicht Frequenzmaße registriert, sondern immer schon sinnvolle Töne, indem Intonationsbesonderheiten sozusagen auf das allgemeine Maß der chromatischen Töne c, des, d, es, e, f etc. zurechtgehört werden, dass andererseits die geschichtliche Erfahrung mit dem temperierten Tonsystem eine rätselhafte Sehnsucht nach nichttemperierten Klängen freigesetzt hat, die vor der Temperierung sich als normales musikalisches Grundbedürfnis zeigte. Zur gleichen Phänomenologie, die jede ordentliche Systematisierung verhindert, weil sie die physikalischen Fakten ignoriert, gehört die Gegebenheit, dass jenes intentionale Hören der musikalischen Töne sich auf drei Formebenen darbietet, die es konstituieren:

 Der einzelne Ton wird a priori als Element einer Struktur, nämlich der Melodie gehört, als Moment einer Gestaltkomplexität.

Der einzelne Ton wird als unvermittelt Abhängiger des Grundtons auf einer unverrückbaren Position innerhalb der Tonreihe eines Modus begriffen: wenn c der Grundton ist, bleibt im Raga Yaman e unwechselbar die große Terz.

Auch in einem nichtmodulierten Stück können die Intervalle in wechselbare Konstellationen eintreten, so dass im Raga Yaman der Ton e einmal als pythagoreische Terz zu c gehört wird, ein andermal als Quart zum h der Unteroktave bzw. Unterquint der oberen, desgleichen bei einer eher irregulären Interpretation, die aber auch den Ton d rein erscheinen lässt, als Quint bzw. Unterquart von a.

Die Prämissen provozieren ein dichtes Netz von Schwierigkeiten, von dem die indische Musikgeschichte nur allzu deutlich geprägt ist. Und eben als nicht aufzulösender, mit Notwendigkeit geschnürter Knoten ist die verwunderliche Praxis der Shrutis anzusehen: je besser man sie begreifen will, um so störrischer bietet sie sich dar. Das kann so weit gehen, dass man sich fragen muss, ob man nicht einem Vorurteil aufgesessen ist und der Begriff der Shrutis nichts anderes sein will als der Name für die Freiheit, mit den Tonhöhen zu spielen – nicht in quasi durchgeistigter Kunstproduktion, sondern naiv nach der unverbindlichen Laune.

Jedenfalls hat man sich damit abzufinden, dass in der gegenwärtigen Praxis der indischen Kunstmusik es drei Einstellungen gegenüber der Intonation gibt:

  1. Es gibt das Spiel mit möglichst vielen reinen Intervallen als definierte Shrutis, die auch einen Namen tragen.

  1. Es gibt einen Bruch zwischen Theorie und Praxis, und die Musik wird intuitiv und irrational realisiert, meistens – aber eben nicht als Norm – mit reinen Intervallen in bezug auf den Grundton, indifferent weil durch die Melodie determiniert untereinander.

  1. Nicht irrational, aber um so anarchischer ist das Verständnis der Oktave als Kontinuum, auf dem im Prinzip jeder spielbare Ton zu Musik werden kann, wenn er nur bewusst intendiert wird.

Die folgenden zwei Shrutitabellen sind aus Daniélou (1991a), p. 31-49 herausgelesen worden, mit einer Neuberechnung der Centangaben. Sie zeigen, dass das indische Tonsystem nichts unverständlich Mystisches enthält, wenn man es wie das arabische als Kombination von reinen und pythagoreischen Intervallen begreift. (Statt der 22 Cent als einem gerundeten Komma betragen die Mikrointervalle zuweilen 19 oder 21 Cent.)

Die erste Tabelle zählt in der ersten Kolonne das Vorkommen des Mikrotones in den 81 von Daniélou aufgezeichneten Ragas [1] , die chromatischen Tonbezeichnungen (nicht temperiert), die Shrutinamen in der alten Reihenfolge mit ihren Bedeutungen [2] , schließlich die Centwerte.

Die zweite Tabelle enthält in der ersten Kolonne für den unteren Tetrachord die Unterscheidung der reinen und der pythagoreischen Töne, dann wieder die chromatischen Tonbezeichnungen und die Shrutinamen, dann die Verhältniszahlen, wiederum die Centwerte und vereinzelte Hinweise bezüglich der Berechnungen.

Ein besonderer Fehler bei Daniélou muss noch nachgetragen werden: die nichtalterierten Shrutis (ohne Zusatz ++, +, -, oder --) sind nicht immer die reinen. Die Inkonsequenz wurde hier deshalb beibehalten, weil die empirischen Überprüfungen von Intonationen nicht das allenfalls zu erwartende Ergebnis präsentieren, die gewöhnlichen nichtalterierten Svaras seien die reinen, nichtpythagoreischen Intervalle.

Erste Shrutitabelle

81

c

4

Chhandovati

0 Cent

c+

22

8

des--

71

25

des-

5

Dayavati

sad, pathetic

90

26

des

tender, at peace

112

1

des+

6

Ranjani

loving, calm

133

1

d-

anxious, weak

182

46

d

7

Ratika

strong, confident

204

0

d+

8

Raudri

fierce

223

3

es-

sad

275

25

es

9

Krodha

loving

294

8

es+

10

Vajrika

passionate

316

26

e

11

Prasarini

calm, pleasing

386

27

e+

12

Pritih

awake, lively

408

1

e++

hard, indifferent

427

0

f-

doubt

476

60

f

13

Marjani

moonlight, peace

498

2

f+

intense

520

1

fis--

14

Kshitih

intense, grief

569

4

fis-

uncertain, doubtful

590

24

fis

15

Rakta

intense, active

610

9

fis+

16

Sandipani

acute, interrogative

631

0

g-

inexpressive, self-contradictory

688

73

g

17

Alapini

sunlight, joyful

702

0

g+

confused, self-contradictory

724

6

as-

18

Madanti

deep sorrow

773

28

as

19

Rohini

tender

792

10

as+

loving, enterprising

814

1

a-

uncertainty

863

23

a

20

Ramya

soft, calm

884

26

a+

21

Ugra

restless, playful

906

0

a++

hard, active

925

4

b-

helpless, subdued

977

28

b

22

Kshobhini

beauty, love

997

20

b+

1

Tivra

desire, anxiety

1018

1

h--

doubt

1039

1

h-

anguish, depression

1067

24

h

2

Kumudvati

soft, voluptous

1088

39

h+

3

Manda

strong, sensous

1110

1

h++

selfish, eager

1129

c-

1178

81

c

4

Chhandovati

1200 Cent

Zweite Shrutitabelle

c

4

Chhandovati

1/1

0 Cent

d-d-

c+

81/80

22

3/2•3/4–5/4•8/9 = diat. Komma

des--

25/24

71

5/4•5/6 = e-es+

pyth

des-

5

Dayavati

256/243

90

4/3•64/81 = Limma

des

16/15

112

4/3•4/5 = diat. Halbton

des+

6

Ranjani

27/25

133

d-

10/9

182

5/4•8/9 = kl. Ganzton

d

7

Ratika

9/8

204

3/2•3/4 = gr. Ganzton

d+

8

Raudri

256/225

223

es-

75/64

275

pyth

es

9

Krodha

32/27

294

rein

es+

10

Vajrika

6/5

316

rein

e

11

Prasarini

5/4

386

pyth

e+

12

Pritih

81/64

408

3/2•3/2•3/2•3/2•1/2•1/2

e++

32/25

427

f-

320/243

476

rein

f

13

Marjani

4/3

498

2/1•2/3

f+

27/20

520

4/3•81/80

fis--

14

Kshitih

25/18

569

fis-

45/32

590

fis

15

Rakta

64/45

610

fis+

16

Sandipani

36/25

631

g-

40/27

688

3/2•80/81

rein

g

17

Alapini

3/2

702

g+

243/160

724

3/2•81/80

as-

18

Madanti

25/16

773

as

19

Rohini

128/81

792

2/1•64/81 oder 3/2•256/243

as+

8/5

814

2/1•4/5 oder 3/2•16/15

a-

400/243

863

a

20

Ramya

5/3

884

2/1•5/6 oder 3/2•10/9

a+

21

Ugra

27/16

906

a++

128/75

925

b-

225/128

977

b

22

Kshobhini

16/9

997

b+

1

Tivra

9/5

1018

2/1•9/10

h--

729/400

1039

h-

50/27

1067

h

2

Kumudvati

15/8

1088

h+

3

Manda

243/128

1110

h+

48/25

1129

c-

160/81

1178

2/1•80/81

rein

c

4

Chhandovati

2/1

1200 Cent

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[1] Bei solchen, die nur in einem einzigen Raga gespielt werden, drängt sich vielleicht der Verdacht über einen Aufzeichnungs- bzw. Notierungsfehler auf.

[2] Da die Shrutinamen in der heutigen Musik nicht mehr mit den „originalen“ von Sharngadeva übereinstimmen, sind ihre Bedeutungen nach dem gegenwärtigen Gebrauch empirisch zu enträtseln versucht worden, hier im Benares Gharana, i. e. Benaresstil.

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