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Inhalt

Christoph Menke-Eggers,
Die Souveränität der Kunst.
Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida,

Frankfurt am Main 1988

Angesichts der Wirklichkeit kann Theorie nicht mehr ohne schlechten Nachgeschmack ihre Aufgabe erfüllen, frei von jeglichem Rückgriff auf den Glauben sei es dem Staat oder dem Objekt der Theologie gegenüber zu sagen, was Wissen sei. Die Auflösung des Falschen in der Theorie, das bis zum Ende des Mittelalters nicht problematisiert werden durfte, schien in der bürgerlichen Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein durch gesellschaftliche Praxis realisierbar zu sein, getragen durch die Kräfte eines historischen Subjekts. Vom Prekären dieses Zustandes sprechen die ersten Sätze der Negativen Dialektik, indem sie der Illusion gegenübertreten, Praxis könne immer noch die Schwierigkeiten auflösen, die der Theorie eigen sind. Adornos Sätze beharren auf der Notwendigkeit von Theorie, weil Praxis zu einem bloß voreiligen Versprechen wurde. Die Theorie muss sozusagen ihre altertümlich-verstaubte Form beibehalten, indem sie, auch durch die Fixierung auf Praxis, immer noch darüber sprechen muss, was Wissen sei, gerade weil sie nur dessen Form im allgemeinen beschreibt und material kein spezielles produziert. Es ist das Thema von Menke-Eggers, über diese eigentümliche Notwendigkeit der Theorie zu debattieren, wie sie bei Derrida mit der gleichen Insistenz postuliert wird wie bei Adorno – über diese Notwendigkeit, die paradoxerweise untrennbar ist von der theoretisch begründeten Unmöglichkeit, Theorie konsistent und abschlusshaft zu artikulieren. Auf diese Unmöglichkeit verweisen schon die nunmehr plakativ-programmatischen Begriffe Dekonstruktion bei Derrida und negative Dialektik bei Adorno. Die These ist, dass die Negativität der ästhetischen Erfahrung den Ort der Begründung anzeigt sowohl negativ-dialektischer wie auch dekonstruktivistischer Konzeptionen des Wissens; so wenig das reale Leiden zur negativen Dialektik führe, so wenig sei es umgekehrt zulässig, alle Diskurse gleicherweise als Texte zum potentiellen Objekt dekonstruktiver Kritik zu machen.

Zwei zentrale Passagen des Buches, die anschließend mit losen Bemerkungen und weiteren Zitaten verdeutlicht werden (meine Unterstreichungen):

  1. „(Der gesamte Gang der bisherigen Überlegungen zur Begründung einer dekonstruktiven bzw. negativ-dialektischen Erkenntnis) hat uns (...) zu dem Punkt geführt, an dem eine veränderte Auffassung vom Status dieser Erkenntnis und ihres Verhältnisses zur ästhetischen Negativitätserfahrung eine Lösung herbeizuführen vermag. Sie besteht in der Einsicht, dass die ästhetische Negativitätserfahrung die argumentative Stelle übernimmt, an der in Adornos versuchter Genealogie unendlicher Ansprüche noch eine nichtästhetische Krisenerfahrung steht. Wir haben gesehen, dass jede nicht-ästhetische Negativitätserfahrung mit dieser Rolle strukturell überfordert war. Nicht überfordert von dieser Rolle einer unendliche Ansprüche sollizitierenden Krisenerfahrung ist jedoch die ästhetische Negativitätserfahrung selbst. Der Fehler in der Durchführung der genealogischen Begründung negativer Dialektik in Adornos Meditationen zur Metaphysik liegt also darin, dass er eine Erfahrung, die in Wahrheit nur als ästhetische gedacht werden kann, als eine nichtästhetische konzipiert. Die Wiederherstellung ihres ästhetischen Charakters bewahrt Adornos genealogische Argumentation dagegen vor solchen Schwierigkeiten. Allein mit ihrer Hilfe gewinnt die dekonstruktive oder negativ-dialektische Betrachtung der Logik des Zerfalls unserer Diskurse eine zureichende Begründung, weil sie die Genealogie unendlicher Ansprüche offen legt: sie entstehen aus der Konfrontation unserer Diskurse mit der ästhetischen Negativitätserfahrung.“ (238f)
  2. Der Gegensatz zwischen romantischer und moderner Ästhetik findet seinen klarsten Ausdruck in dem ihrer jeweiligen Funktionsbestimmungen ästhetischer Erfahrung im Verhältnis zu den anderen (nichtästhetischen) rationalisierten Erfahrungsweisen.“
    (Der Autor spricht von nichtästhetischen Erfahrungen, wo von politischen u. ä. gesprochen werden könnte.)
    “Die romantische Funktionsbestimmung beschreibt die Kunst teleologisch als transrationale Problemlösungsinstanz für ihr vorausgesetzte, unabhängig von ihr analysierbare Probleme oder gar Aporien unserer nichtästhetischen Diskurse in ihrer rationalisierten Gestalt; die moderne Situierung der Kunst bei Adorno denkt sie dagegen als Katalysator für die Entstehung von Problemen, die ohne die katalysatorische Wirkung ästhetischer Erfahrung gar nicht auftreten und gedacht werden können. Die Kunst löst nicht vorästhetisch diagnostizierbare Aporien, sondern konfrontiert unsere nichtästhetischen Praktiken und Diskurse erst mit einer Krisenerfahrung, angesichts derer sie aporetisch – oder im oben bestimmten Sinn: unlösbar dialektisch – werden.“ (261)

Die Kunst ist autonom (Kant, Weber) heißt:

„Sie ist ein ‚eigengesetzliches’ Geschehen, dessen Selbständigkeit gegenüber den nichtästhetischen Diskursen impliziert, dass es sich neben ihnen in dem pluralen Gefüge der modernen Vernunft verortet. Deshalb ist die Geltung des ästhetisch Erfahrenen zugleich notwendig partikular: sie ist relativ auf diejenige Sphäre des Erfahrens, die durch die Orientierung am spezifisch ästhetischen Wert des Schönen umgrenzt wird“. (9)

Autonomie impliziert Relativität: das Ästhetische ist bezüglich dem Politischen wirkungslos, weil es außerhalb der Geschichte der Wahrheit lokalisiert werden muss.

Die Kunst ist souverän heißt:

„(Der Begriff der Souveränität) reformuliert denjenigen Zug der ausdifferenzierten ästhetischen Erfahrung, der in der anderen Traditionslinie der modernen Ästhetik von der Romantik bis zu den surrealistischen Avantgarden unterstrichen wird: nach Adorno das Versprechen, in der Kunst ‚sei das Absolute präsent’ (Ästhetische Theorie 159). Souverän ist demnach die ästhetische Erfahrung, sofern sie sich nicht in das ausdifferenzierte Gefüge der pluralen Vernunft einordnet, sondern sie überschreitet. Beschreibt das Autonomiemodell die ästhetische Erfahrung als geltungsrelativ, so das Souveränitätsmodell deshalb als absolut, weil ihr Vollzug zugleich das gelingende Funktionieren der nichtästhetischen Diskurse sprengt. Das Souveränitätsmodell der ästhetischen Erfahrung sieht in ihr das Medium einer Auflösung der außerästhetisch herrschenden Vernunft, die Instanz einer erfahrend vollzogenen Vernunftkritik.“ (10)

(Man darf wohl kaum erwarten, dass diese subtile Begriffsunterscheidung in die Kunstdiskurse Eingang findet, weil im Begriff der Autonomie der Gehalt des Souveränitätsbegriffs nur zu leicht sich mitdenken lässt. Da Adorno in keiner Weise mit dem Sozialistischen Realismus liebäugelt, erscheint die Begriffsdifferenzierung subtiler als die zwischen L’art pour l’art und dem Agitprop. Die Unklarheit durchzieht das ganze Buch.)

Es herrscht eine antinomische Spannung zwischen diesen zwei Modellen der ästhetischen Erfahrung, der Autonomie und der Souveränität. Je autonomer die Kunst gefasst wird, desto unwirksamer erscheint sie und will sie wirken im politischen Bereich – sie ist bloße Unterhaltung bzw. „Entlastung“; je politischer sie bestimmt wird, desto weniger kann sie sich und kann sich ihre Materialität frei entfalten. Die Kunst der Moderne ist in dem Sinne autonom, dass sie nicht explizit politisch ist (Schönberg, Joyce); sie ist aber zugleich souverän und nicht-konservativ, weil sie dem historischen Stand ihres Materials kritisch, das heißt negativ gegenübersteht. Sie ist nicht explizit kritisch gegenüber dem Politischen, um so mehr aber gegenüber sich selbst. Das hat zur Folge, dass sie die Vernunft im Ganzen kritisiert, und zwar im Moment, wo ihre Gebilde zur Erfahrung gelangen.

Adorno sei sich nicht besonders im Klaren darüber, wie viel sein Begriff der ästhetischen Negation bzw. Negativität überhaupt leistet. Menke-Eggers verspricht sich einiges – wohl zuviel – von diesem Begriff; die Bestimmung der Kunst als Negation mache die Antinomie sinnvoll artikulierbar:

„Wird der Vollzug der ästhetischen Erfahrung als ästhetische Negativität verstanden, so gewinnt sie einen souveränen Gehalt, der die Autonomie des Ästhetischen voraussetzt, nicht beschneidet.“ (12)

Allerdings berührt das Buch die Frage nicht, was es auf sich habe mit der affirmativen Rezeption, d. h. der positiven Erfahrung auch von solchen ästhetischen Gebilden, deren Anlage selbst negativ ist; das ist kein Manko, das leicht zu verzeihen wäre, weil so der Text sich gegen Einwände immunisiert. Die postulierte Negativität ist bedrohlich nah am Abhang der metaphysischen Abstraktion, wo die Kritik nur abstrakt negativ wirksam ist (vgl. den Zusatz unten).

Es ist nicht dasselbe, ob man sagt, es existiere in der ästhetischen Erfahrung immer auch das Moment der Negativität – dann ist diese quantitativ mehr oder weniger substantiell bestimmend; oder ob man definitorisch jede ästhetische Erfahrung als ästhetische Negativität verstanden wissen will – dann ist die Negativität bloß abstrakt.

Aber Adorno soll die Sachlage nicht durchschaut haben, weil er sich vom geschichtsphilosophischen Pathos nicht hat lösen können, vom Begriff des außerästhetischen Leidens:

„Eine Lösung des zentralen Problems, das Adornos Ästhetik hinterlassen hat, wie nämlich Autonomie und Souveränität durch eine Erläuterung des Konzepts ästhetischer Negativität zusammenzudenken sind, kann jedoch mit den begrifflichen und argumentativen Mitteln dieser Ästhetik selbst nicht erreicht werden.“ (12)

Es scheint sich so zu verhalten, dass der in der Negativen Dialektik bemühte Begriff des Leidens – und dadurch auch derjenige des Nichtidentischen – das argumentativ nicht leistet, was dem Begriff der Negativität ästhetischer Erfahrung gelingen soll. Die ästhetische (aber nicht unbedingt auf Kunstwerke eingeschränkte) Negation wird von Derrida hergeleitet und absolut konzipiert.

Definition der ästhetischen Negativität:

„Ästhetische Negativität besteht in der unendlichen Verzögerung automatischen Verstehens beziehungsweise in der Freisetzung des Materials der Signifikanten gegenüber ihrem Bedeutungsbezug.“ (250)

Ästhetische Negativität soll in eigenen Worten heißen, dass es in der Erfahrung etwas gibt, – ein Moment, das man präzisieren und somit zu einem wissenschaftlichen Thema machen kann – das nicht verstanden wird und nicht verstanden werden kann, das sich also immer und notwendigerweise dem (hermeneutischen) Verstehen entzieht (Adorno und Derrida sind gleichermaßen Antihermeneutiker und Antiamerikaner). Diese Negativität ist in den eigentlichen Kunstwerken enthalten, in großen mehr als in kleinen (das ist nicht unwichtig), dennoch grundsätzlich in allen, indem sie ja nichts Reales aussprechen (außer die kleinen mit dem Zweck des Vergnügens)/(alle Kunstwerke sind immer nur Schein, an dem der wissens- und verstehensgierige dumme Mensch scheitert); dieselbe Negativität – und das ist die hohe Pointe des Begriffs – ist aber auch in allen nichtästhetischen Erkenntnisobjekten herausdestillierbar (man muss aktiv etwas tun dafür, nicht nur zu Gott beten wie die Hermeneutiker oder zum Staat wie die Heraldiker), indem zum Beispiel nur schon die Neutralität der Erkenntnisinstrumente in Frage gestellt wird: die Sprachzeichen. Die Struktur der Sprache hat eine Korrespondenz mit dem realen nichtästhetischen Objekt – aber sie ist auch etwas, d. h. etwas Ästhetisches, das nicht verstanden wird (vielleicht müsste man sagen: das man in der Weise  – ästhetisch – anschauen kann, dass es nicht mehr zu verstehen ist), zumindest nicht im klaren Bewusstsein, das eigentliche Erkenntnis beanspruchen müsste.

Die ästhetische Negativität ist in jeder Erfahrung als ein Moment enthalten, das der Idealismus überspielte. Der Begriff der Negativität bedeutet, dass etwas der Vernunft Widerstand leistet, sie in eine Krise stürzt. Desgleichen beinhaltet der Begriff auch Kritik an Bestehendem, weil die Vernunft nur historisch konkret sein kann. Darum ist der Begriff auch normativ und ein Kriterium für das Abwägen des Gehalts eines Werkes: die Kunst soll negativ sein, um die Selbstgenügsamkeit der Vernunft, das heißt nun also die Gesellschaft oder das Reale zu irritieren. Negative Kunst nimmt die Menschen ernster als bloß unterhaltende, weil sie das Konkrete auf den Punkt bringt – wahrnehmbar macht – das die Vernunft bzw. die Gesellschaft den einzelnen aufpresst: nichtkritische Kunst wiederholt dieses Repressive. Die aktive Kritik lockt somit den verstehensgierigen amerikanisch-hermeneutischen Menschen aus der Regression heraus, indem sie ihn präzise in dieser Gier vor den Kopf stößt – und dadurch wird man/frau erst verstehensfähig...

Menke-Eggers spielt gerne mit den Begriffen Teleologie und Genealogie:

„(Ich will) nochmals genauer zwischen der Funktion des Ästhetischen in der teleologischen Begründung (Erfüllung unendlicher Ansprüche) und in der genealogischen Begründung (Generierung unendlicher Ansprüche) negativer Dialektik unterscheiden. Ihre Unterscheidung deckt sich, wie wir sehen werden, mit der zwischen einem Grundtyp ‚romantischer’ und einem ‚moderner’ Ästhetik.“ (254)

Die Bestimmungen schwanken orientierungslos zwischen der Negativen Dialektik, die sich einigermaßen diszipliniert vom Ästhetischen freihält, und der Ästhetischen Theorie selbst hin und her.

Es knirscht, wenn Teleologie und Genealogie unvermittelt aufeinanderprallen. Normalerweise sind Begriff und Gegenbegriff auf bestimmte Weise durch eine Tradition aneinander gebunden. Bei diesen zwei Begriffen scheint dies nicht der Fall. Beim Begriff Genealogie wird Nietzsche und die immense Anstrengung gegen die Tradition der Metaphysik assoziiert; beim Begriff Teleologie assoziiert man unweigerlich die ganze Geschichte der Metaphysik, insbesondere die Namen Aristoteles und Hegel. Der Begriff Genealogie steht außerhalb dieses Kontextes. Dadurch wird er noch nicht zum Gegenbegriff der Teleologie, auch wenn er vom Autor sachlich nicht falsch verwendet wird. Die Argumentation ist korrekt – die Rezeption des Gesamttextes aber stark erschwert, weil es willkürlich erscheint, solche belastete Begriffe rein technisch-logisch zu verwenden.

Adornos Begriff des Nichtidentischen wird mit Kants Ideen verglichen, nicht mit dem Ding an sich. Ähnliches widerfährt dem Begriff der Différance (194ff). Die Darstellungen des Nichtidentischen und der Différance sind so sachlich falsch.

Der Autor verzichtet darauf, das Problem der Andersheit aufzunehmen, ebenso, die Texte von Adorno und Derrida als genuin materialistische Theoriebemühungen zu rezipieren. Dadurch huldigt er der Prämisse, dass Theorie in der Logik ihrer Begriffe restlos begründet werden kann – was im übrigen eine andere Ebene anspricht als die Idee der Notwendigkeit von Theorie, die mit Unmöglichkeit verknüpft ist. Für die Erkenntniskritik als Erkenntnislogik sollen Geschichtsphilosophie und Gesellschaftskritik nur Epiphänomene sein; wenn sie überhaupt beansprucht werden – was dem Erkenntnislogiker absurd erscheinen muss – dann sollen sie als von ihr abgeleitete benutzt werden.

Die „Hilfstheorie“ zur Erhellung der Adornoschen Konzeption liefert Derrida – oberstes Ziel ist, derart zu einer Logik zu kommen, dass ästhetische Argumentation und Gesellschaftskritik voneinander trennbar werden:

„Der erste durch den Rückgriff auf die dekonstruktiven Theorien zu verbuchende Explikationsgewinn besteht deshalb in der Befreiung von Adornos Negativitätsbegriff aus seiner Vermischung mit der Negativität der Gesellschaftskritik und seiner Erläuterung als Subversion des Verstehens.“ (13)

Allerdings muss offenbar auch die Dekonstruktion gezähmt werden. Es wird ihr die Intention unterstellt, das Ästhetische verallgemeinern zu wollen, indem von der Metaphorizität ästhetischer Texte unzulässig auf eine unbegrenzbare Metaphorizität aller Texte geschlossen würde:

„(Die dekonstruktive Theorie) teilt das romantische Missverständnis, die Kunst sei selbst die Instanz der Vernunftkritik. Ein Blick auf die Probleme der radikalisierten Vernunftkritik, die Adorno wie kein anderer gesehen hat, zeigt jedoch, dass das vernunftkritische Potential der ästhetischen Erfahrung weder als ihre Implikation noch als von ihr ablösbarer Gehalt, sondern nur als ihre Wirkung beschrieben werden kann.“ (14)

Eine andere Derridadistanzierung Seite 220f: „... wird Derridas philosophische Situationsdeutung zu einem bloß privaten Dilemma. Mag seine Philosophie am Rande der Metaphysik stehen, so folgt daraus noch nicht, dass die Philosophie diesen Ort nicht verlassen kann.“ (Das sagt wenig über Derrida aus, viel über den Autor.)

Bewertungsversuch:

Die Kunst hat ihre autonome Geschichte, indem ihre Gebilde keinem äußeren Zweck huldigen (außer dem „Metazweck“, Geschichte rückwirkend sichtbar zu machen; dieser Zweck steckt im Material als Spannung, die die Arbeit an ihm weitertreibt). Die Kunst gelangt in ihrer Autonomie an den Punkt, wo sie eine eigentümliche Wirkung entfaltet: Dieser Punkt fällt zusammen mit dem historischen Moment der Moderne, in welcher die Theorie, mit staatlich tolerierter Sensibilität gegenüber dem Glauben und der Ideologie, nicht mehr definitiv sagen kann, was Wissen sei. Die Krise der Vernunft steht in einem Verhältnis zu einer bestimmten Leistung der Kunst. Ist sie ihr Produkt? Nein. Ist die Krise also, wie die geläufige Hypothese lautet, Produkt der politischen Geschichte? Nein. Die ästhetische Erfahrung, die jeweils konkret eine Wirkung erzeugt, etwas Sekundäres, ist der Ort, wo innerhalb der Krise der Vernunft Vernunftkritik logisch begründet werden muss (gemäß der Intention des Autors). Wo die Krise historisch herkommt, braucht offenbar nicht ausgesprochen zu werden, muss in der logischen Begründung nicht berücksichtigt werden. Die Kritik selbst geschieht in der Vernunft, nicht in der Kunst, ebenso wenig in der politischen Praxis. Die Kritik kann nicht zu einem Abschluss gelangen, auch wenn ihre Durchführung drängt und zumindest im logischen Sinn notwendig ist. Man muss sprechen, auch wenn man nichts benennen kann. Die Vernunftkritik als Theorie ist so notwendig wie sie in ihrer Durchführung unmöglich ist. Trotz dieser speziellen Notwendigkeit, die von der Kunst herkommt, weil sie nur in ihr begründbar ist, schielt der Autor auf den Pragmatismus von Wittgenstein (247). Die tendenzielle Unverbindlichkeit des Pragmatismus wäre ihm vernünftiger als eine Vernunftkritik, die sich auf die politische Erfahrung bezöge. Menke-Eggers referiert an keiner Stelle Kunstgebilde material; sein Text ist vor aller Vernunftkritik Erkenntnistheorie, die sich – zum großen Erstaunen – jeglichem Ontologisieren zu entziehen vermag. Das macht den Text bewundernswürdig dicht; gleichzeitig erzeugt sich in solcher stringenten Souveränität der Logik der fahle Schein eines Ästhetizismus, der doch vom Autor mit Entschiedenheit zurückgewiesen wird (243). Die Verbindlichkeit droht eine Form anzunehmen, die die Praxis definitiv liquidiert, indem sie sie aus ihrem Argumentationszusammenhang ausschließt. Das ist nicht zuletzt Folge der Ignoranz gegenüber Problemen, die die Theorie aus sich entlässt, sofern sie sich als materialistische versteht – und eines dieser spezifischen materialistischen Probleme ist, dass das Verlangen nach logischer Identität untrennbar analysiert werden muss mit dem Verlangen nach Identifizierung in sozialen Prozessen.

Ist das nun der aktuelle Stand der Adornorezeption, dass man sagen muss, nicht die Kategorien der Negativen Dialektik, also der Materialismus des Nichtidentischen, würden die Postulate der Dialektik der Aufklärung begründen – unkritische Wissenschaft, die zur Bewältigung von Naturgewalt angelegt ist, richtet sich gegen die Menschen selbst; das ist das Postulat: wer aber ist in diesem allgemeinen Verblendungszusammenhang des Wissens fähig, Kritik zu leisten, warum gerade Horkheimer und Adorno? – sondern die außerhalb der Negativen Dialektik konzipierte Ästhetische Theorie, die sonderbarerweise erst von Derrida richtig expliziert wird, und zwar zeitlich vor ihrer Publikation, der aber seinerseits die eigenen Darlegungen überstrapaziert, weil verallgemeinernd auf alle möglichen Diskurse appliziert?

Der Fehler Menke-Eggers’ scheint mir in der Huldigung an eine allgemeine Logik zu liegen, die die Ausgangspunkte reales Leiden bei Adorno und Uneindeutigkeit des Zeichens bei Derrida unbedingt auf eine widerspruchsfreie Identität reduziert wissen will. Ein Blick auf die materiale Kunst selbst aber genügt, diesen Drang als obsoleten zu erkennen: die Werke von Cage und Boulez widersprechen sich in einem nicht zu überbietenden Maße, indem die Willkür des Autors als Subjekt beim einen durch organisierten Zufall sabotiert wird, beim zweiten durch Prädetermination der Kompositionsmaterialien. Die konkrete ästhetische Erfahrung ist bezüglich diesen zwei Kunstkonzeptionen widersprüchlich – als Vernunftkritik im ganzen beziehungsweise Quelle zu einer solchen bilden sie aber eine Einheit, nicht zuletzt dadurch, dass sie im Realen der Verdrängung unterstehen.

22. August 1990

 

Zusatz 29. August 1990:

Vermittelt durch die Erfahrung ist die ästhetische Negativität bei Adorno an das einzelne Gebilde gebunden; der Begriff ist nicht absolut, wie er vielleicht bei Derrida erscheinen mag. Bei diesem muss jeweils in einer Übersetzungsarbeit eine politische Lektüre eigens geleistet werden, was bei Adorno der Begriff der Negativität selbst schon impliziert: die Erfahrung kann scheitern, zumal als gesellschaftliche Rezeption der Kunst. Der logische Ort der Begründung der Vernunftkritik, die Permanenz der Negativität der ästhetischen und ästhetisierten Erfahrung, hat ein fundamentum in re, das ihm Form gibt. Als politische Praxis schwankt das Fundament. Es macht eine Vernunftkritik möglich, indem die Kunstgebilde auf es bezogen werden; es verunmöglicht sie, indem es ihnen – in der Kulturindustrie – nur den Schein ästhetischer Negativität überlässt, die real um so mehr auf Identifikation abzielt. Der logische Ort darf nur beansprucht werden, wenn er auch hinterfragbar ist – bei Derrida durch eine politisch sekundäre Lektüre seiner Texte (wie dies beispielsweise in Michael Ryans Marxism and Deconstruction, Baltimore and London 1982, geschieht), bei Adorno durch Berücksichtigung seiner immer schon geleisteten Hinterfragungen, die möglich sind durch Insistenz auf der Situierung der einzelnen Gebilde im gesellschaftlichen Kontext.