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Inhalt

Jacques Derrida
Die unbedingte Universität

Frankfurt am Main 2001

 

Derrida scheint in diesem Vortrag in die Fallen großer Teile seiner Gefolgschaft zu geraten, die Dekonstruktion nicht als Verfahren im Umgang mit Texten zu begreifen, sondern als allgemeine Praxis, deren Wesenszüge dadurch zu charakterisieren wären, etwas Neues zu versprechen, weil sie als Projekt eben ein Neues sei, das alles andere als alt erscheinen zu lassen vermöchte. Dieser scheinradikale Ton, der wie eine Passacaglia den ganzen Vortrag strukturiert, also an beliebiger Stelle in Szene gesetzt zu verfolgen ist, wurde zuvor mit größter Bedachtsamkeit in Schranken gehalten, weil von der Dekonstruktion weder als Lehre noch als einem Ereignis, das jenseits eines Vorangegangenen anzusiedeln wäre, gesprochen wurde. Unter dem Druck der Dekonstruktion als Mode scheinen die Ankerseile des reflexiven Maßes gerissen zu sein. Es ist nicht nur der Text bekennend, was er sein dürfte soweit das Bekennen ihn durch die Fragestellung wesentlich bestimmt, sondern es erscheint, man staune füglich, der Ton erhaben. Nicht in den Texten liegt nunmehr ein mögliches Versprechen, von dem zu sprechen wäre, sondern der Protagonist selbst bekennt und verspricht - ich meine nicht unbedingt Derrida, sondern der thematisierte Professor als individualisierter Akteur. Da es sich hier um eine heikle Frage handelt und Derrida des öfteren mutig seinen Kopf hingehalten hat und für eine progressive Sache eingestanden ist (im Umfeld der Frankfurter Kritischen Theorie heute wird man nie so dezidierte Statements gegen das Skandalöse gegenwärtigen Gesellschaftens finden, really, trust me), kann das Problematische akzeptiert werden: Derrida möchte zur Zeit mehr die Akteure und Aktricen der Dekonstruktion in den Vordergrund der Betrachtungen rücken als die Anonymismen in den dekonstruktiven Vorgängen (ich denke hier an die Boulez'sche Idee und das Ideal des Anonymats in der seriellen Musik).

Wo es um das Begriffliche selbst geht, um die entschiedene Wahl der Wörter, wird die Forderung nach stillschweigendem Akzeptieren überreizt. Derrida lokalisiert die Subjekte der Dekonstruktion sowohl innerhalb wie außerhalb der Universität, gemäß der Art, wie er dieselbe lokal festmachen will. So wie er das Universitäre offen bestimmt, mehr die schlechten, kapitalvereinnahmenden Tendenzen durch Sponsoring von Lehrstühlen u. ä. zur Sprache bringt als das Undisziplinierte außerhalb der Mauern traditioneller Universitäten, erscheinen die Einschätzungen als stimmig: sie beschreiben die Verhältnisse, grob, aber immerhin, melden Bedenken an und stellen Forderungen in den Raum. Um die Tätigkeit selbst zu beschreiben, rekurriert er auf zwei Begriffe, die er tel quel übernimmt, ohne sie in einem erweiterten Rahmen zur Disposition zu stellen. Sie widerspiegeln einen der zentralsten Themenkomplexe in seinen Schriften, den des Verhältnisses zwischen dem gesicherten Begriff und der unstabilen Metapher. In erstaunlich fahrlässiger Manier eröffnet er ein Oppositionsfeld zwischen dem Begriff des lehrenden Werkens jedes institutionentreuen Professors und dem des Werkes, das nur in Devianz gegenüber dem Wesen der Lehre, der Universitätslehre, entstehen kann und heute, was einmal mehr von der Kraft der Dekonstruktion zeuge, sukzessive an Terrain gewinnt. Mit beiden Begriffen lässt er es auf sich beruhen, und beide sind sie doch in sich selbst eminent problematisch, sowohl derjenige der Lehre wie der des Werkes. Denn die Lehre kann nicht einfach als das Werken des Professors tituliert werden. Sie ist ein Charakterzug der Theorie, der immer schon in Frage zu stellen wäre. Zu erinnern ist an die Frage der Parteilichkeit, des Ästhetizismus, der Organisation, der Wertfreiheit, des Mandarinentums etc. Eher als die Theorie zur Lehre verkommt bedarf sie, die den Gesamtzusammenhang, also das Vernünftige im Wirklichen nicht aus den Augen entgleiten lassen will, als ihre strengste Prämisse, nicht Lehre sein zu wollen. Dadurch begibt sie sich längst nicht der Verbindlichkeit, sondern zielt, indem sie von nichts anderem als von den Zusammenhängen berichtet, auf sie. Da sie streng sich an die Einzelbegriffe hält, sowohl an die alten wie die neuen, die sie suchend rezipiert, wandelt sie nicht auf einem schwankenden Boden der Metapher und des bilderreichen Erzählens. Was in ihr entsteht ist denn, und das betrifft Derridas zweiten begrifflichen Missgriff, nicht als eine Ansammlung von Werken zu beschreiben, sondern als Zusammenstellung von Gebilden, die sich sträuben, zu einem totalen Einzelnen zusammengeschweißt zu werden, sondern von Anfang bis Ende den Blick freigeben auf das Zusammenstehen kleinerer Gebilde, die in sich selbst durch minimale Einzelbegriffe zusammengehalten werden.

Derrida kennt nur die Begriffe der Lehre und des Werkes, wo derjenige des Gebildes auf beide gerichtet wäre, um sowohl ihr eigenes Falsches wie ihr falsches Verhältnis untereinander überwinden zu helfen. Nur deswegen kann er sich neuerdings so fragwürdig in Szene setzen, weil der Adornopreisträger, zu dem er drei Jahre nach diesem Vortrag wurde, Adorno endlich redlich zu lesen beginnen müsste. In klassischer, das Falsche erzeugender Abwehr weiß Jacques Derrida nur zu gut, was ihn erwarten würde, ein Vernunftmaß als der Impuls von Selbstkritik, die mit feierlichen Sprüchen vom Möglichen, an das seine AdressatInnen sich zu wenden hätten, wenn nicht aufräumen so doch Zurückhaltung üben würde.