In Praise of Janmashtami
Raag-Mala in Mishra Khamaj
Navras Records NRCD 0116/7/8, 1999
Mit: Rakesh Chaurasia, Rupak Kulkarni, Madan Mishra
Für nichtreisende EuroamerikanerInnen ist eine spezielle Dimension der indischen Musik nur sehr selten erfahrbar: die Dauer des Spiels, sei es eines Ragas oder eines ganzen Konzertes. Gewöhnlicherweise sind diese von Musikern auf Tournee unseren Verhältnissen angepasst oder sonstwie durch Äußerlichkeiten gestört (dem Schweizer Radio wird nie vergessen, wie in einer fantastischen Nacht indischer Musik, gespielt in Basel in den Achtzigerjahren, morgens um 6 Uhr das Spiel des sich entfaltenden Morgenragas, also live hier ein seltenes Ereignis, brutal und primitiv mit "Nachrichten" abgewürgt wurde). Mittels CD-Format ist es zwar möglich, einen einstündigen Raga in seiner kompletten Inszenierung aufzuzeichnen - eine solche ist aber noch nicht das ganze Konzert mit der besonderen Stimmungslage seines dehnbaren zeitlichen Verlaufes.
Als Rarität ist also schon die äußerliche Form der anzupreisenden Trippel-CD anzusehen, die bruchlos die drei ersten Stunden einer fünfstündigen Aufzeichnung wiedergibt (mit geplanter Veröffentlichung der zwei anderen), die selbst nur den ersten Teil bildet eines Konzertes mit offenem Ende, das um Mitternacht des Krishna Feiertages, des Janmashtami, beginnt. Der Schauplatz ist kein Stadion und keine Konzerthalle mit vergleichbaren Ausmaßen, sondern die Wohnung des Flötenmeisters Hari Prasad Chaurasia in Bombay, deren Umgebungslärm Aufnahmen zur Tageszeit gar nicht erst ermöglichen würde. Obwohl dieser Musiker keine Berührungsängste kennt bezüglich der Zusammenarbeit mit euroamerikanischen Musikern, allerdings nur aus der Jazzszene, erlauben ihm diese drei Voraussetzungen des intimen Publikums, des nur in Vorbereitung und in Opferbereitschaft durchzuführenden Feiertages und der geplanten unendlichen Aufführungsdauer ein rückhaltloses künstlerisches Musizieren ohne Konzessionen. Die Musik wird so authentisch ohne den schlechten Geruch der selbstgerechten Alltäglichkeit authentisch gebliebener Musiker.
Der Ausdruck Raga-Mala bedeutet so viel wie eine Mischung von Ragas, und in der Tat sind in Europa solche Stücke fast ausnahmslos zu hören wie ein Spiel in bunter Mischung, zu begreifen nicht anders denn als Tiefpunkt in der Ästhetik indischer Musik. Man stelle sich vor, in zehn Minuten würden mehr als vier verschiedene Ragas wie vier verschiedene Beethovensymphonien angespielt - es ist dieses Resultat ein Kindergarten, keine Musik. Nun stelle man sich aber vor, wie ein Raga während fünf Stunden ununterbrochen zur Entfaltung gelangt, und in dieser Musik werden über längere oder kürzere Phasen, nicht zu vergessen die vorbereitenden Anspielungen, andere Ragas miteinbezogen. Was für ein Universum macht sich da auf! Gerade weil die musikalische Entwicklung in diesen Aufnahmen so ungestört ihren Lauf nimmt, können auch unwissende EuroamerikanerInnen das, was strukturell passiert, bewusst mitverfolgen.
Das Tonmaterial ist sehr einfach. Der Rag Khamaj besteht aus allen Tönen der C-Dur-Tonleiter, abwärts mit einer verminderten Septime. In einer langen Inszenierung bildet sich auch bei ungewöhntem Hören eine feste Struktur im mittelfristigen Gedächtnis (ohne dass man über die Elemente Auskunft geben müsste). Erscheinen endlich die tonleiterfremden Töne aus einem anderen Raga, ergibt sich zwangsläufig ein neues Strukturgebilde, also ein neues Bild, das mit dem alten in Verbindung steht. Nicht um primitive Reize geht es, hier ein scharfer Ton, da ein besänftigender Klang usw., sondern um feste Gebilde, die in sich selbst strukturiert sind wie sie auch mit anderen Gebilden in Beziehung treten können.
Diesem scheinbar Statischen, Massiven im Konzertverlauf opponiert das Spiel auf den diversen Oberflächenverläufen. Zwei Momente lassen einem während drei Stunden den Mund offen stehen und nehmen ihm gleichzeitig den Atem - ich bitte um Verzeihung, aber es ist, als ob der Flötist zur Durchstehung der mehrstündigen körperlichen Strapazen den Atem seinen ZuhörerInnen rauben müsste. Das eine Moment besticht durch die Präsenz in der Dynamik, also die unermessliche Virtuosität im entfaltenden Phrasieren und im Dosieren des Ansatzes und der Lautstärke, das andere durch den Drive und das Drängen des Tempos, das man kaum erwarten würde nach dem ersten Blick auf die abstrus kitschige CD-Hülle. Ein Name drängt sich beim Anhören immer wieder ins Bewusstsein: Jimi Hendrix hatte, ohne Drogen, die das Scheitern provozierten, zu solchem Musizieren angesetzt. So wie es komponierende Mitmenschen nur immer in kleiner Zahl gegeben haben wird, sind die wirklich feurigen MusikerInnen immer nur wenige (was keineswegs heißt, dass die anderen schlecht sind): Jimi Hendrix war einer, Harid Prasad Chaurasia ist ein anderer.
Klar, die Schönheit brilliert nicht unmittelbar auf dem Oberflächenreiz, und natürlich ist sie nicht die Struktur selbst - sie wäre totes Gerippe, verklärt; die Musiker haben sie in einer anstrengenden Arbeit zum Leben zu erwecken. Die Anstrengung, die glücken oder verunfallen kann, besteht darin, um dialektische, durch Wiederholung gefügte und auf Wiederholung abzielende Gebilde einen Bogen zu machen oder flinke Haken zu schlagen - die vermittelte Wiederholung aktiv, mit aller Kraft des musikalischen Bewusstseins zu vermeiden, nicht selten durch unvermittelte serielle Repetitionen. Die indischen Melodien, so karg konzipiert wie die Themen Beethovens, verhelfen dazu wenig, ja sind geradezu eines der Elemente der Gefahr, in die sich die Musiker begeben müssen, um künstlerische Größe realisieren zu können. Das europäische Ohr befindet sich deswegen zuweilen in höchster Anspannung, weil es um einen Absturz ins Banale fürchtet, in die Katastrophe der einfältigen Stagnation, die sich indes an keiner einzigen Stelle einzufinden vermag. Dieses knappe, abenteuerlustige Vermeiden kadenzartiger Strukturgebilde, das den großen Zug der Schönheit jeder indischen Musik ausmacht, gelingt hier vorzüglich. Aber das ist nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit, da mit diesem Merkmal die Idee der indischen Musik steht und fällt.
Man muss über die Frage auch ohne Entscheidungskraft spekulieren, woher der Drive kommt, ob er sich vielleicht in der indischen Musik selbst rechtfertigen ließe oder eher ein Schmuggelgut aus dem Jazz darstellt, eine steife Behauptung, die dem Festcharakter hier widersprechen dürfte. Jazz selbst ist dieses Drängen der Musik mit Gewissheit nie, sondern im Ganzen des Konzerts eine ungeheuerliche, äußerst beeindruckende performative Anklage derjenigen Jazzer - es sind natürlich die Freunde Chaurasias - die doch so viel von der indischen Musik aufgenommen haben. Wie oft eben wird man bei John McLaughlin frustriert, wenn er die Phrasen nur einmal aufblitzen und dann als Furz innerhalb eines billigen standardisierten Gefüges verblassen lässt, weil sie eben in keinen akzeptablen - und das heißt: langen - Zeitverlauf eingebunden sind. John McLaughlin, und mit ihm viele andere, Geringere, inszenieren die indischen Elemente der Musik wie Porno, der nicht nur die Mädchen dem Verrat ausliefert, sondern auch ihre Konsumenten betrügt, weil er das über den Sex Hinausschießende, das Verspeisen der Seele in der Liebe, abwürgt. Das ist es, was sich in den Lobeshymnen Krishnas freisetzt, die Freude am Ganzen, also Göttlichen des Lebens mit den Momenten der irdischen Vielfältigkeiten. Auch in der geschlossenen mythischen Form der indischen Musik sind diese im Überfluss vorhanden, sofern die äußere Form ihre Entfaltung nicht schädigt und der Wille der KünstlerInnen unbedingt, mit aller Opferbereitschaft, auf sie ausgerichtet ist.
Hari-Krishna ist ein Findling in dem, was sich mythisch Geschichte der Musik nennt, weil sie sich doch nur auf die europäische bezieht, um die andere im Mythos wegzuschließen. Man muss aber zu ihr gehen wie zu den Gletschern, um den erwachsenden Verhältnissen das längerfristige Geheimnis abzulauschen.