Beihefte zum Archiv für
Musikwissenschaft, Band 32
Stuttgart 1993
Die Habilitationsschrift zeigt, wie eine ganze Welt über Jahrzehnte hinweg das Werk Stockhausens falsch einschätzte, indem ihm zwei sich widersprechende zeitliche Phasen unterstellt werden, einer ersten rationalistisch augezeichneten folge eine irrationale mystische und religiöse. Diese falsche Einschätzung, die sowohl bei den Bewunderern wie bei den Ablehnern Stockhausens anzutreffen ist (wie genau gleich auch bei denjenigen, die ihn nur teilweise befürworten oder ablehnen), entstand nur deswegen, weil man von den fünfziger bis in die Mitte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts einen Teil der Äusserungen ganz einfach nicht ernst genommen hat, denn, und das ist die neue Erkenntnis, es hat nie eine Zeit gegeben, da Stockhausen nicht die Dinge durch und durch religiös betrachtet hätte.
Wir werden demzufolge uns hüten müssen, von den Vorzügen der Frühwerke Stockhausens zu schwärmen und in den späteren nur ein Teilmoment wie etwa die fulminanten Melodieverläufe besonders hervorzuheben: der intentionale oder gesellschaftliche Gehalt der Werke ist bei allen derselbe.
Obwohl die Einsicht Blumröders wichtig ist, entlastet sie die Schwierigkeiten im Umgang mit Stockhausens Musik nicht entscheidend, weil eben der Gehalt als so eminent ideologisch behaftet in Erscheinung tritt. Den Werken der RussInnen gehe ich guten Gewissens aus dem Weg, weil ich mich nicht chronisch ihrer religiösen Gewalt freiwillig aussetzen will. Stockhausen hat dagegen den Vorzug, auch im Spätwerk geniale Musik zu komponieren, die auch beim äusseren ärgerlichen Brimborium an die künstlerischen Impulse der frühen Werke erinnert, denn die Musik ist wie bei keinem anderen Komponisten in der Tat immer wieder neu.
Folgt man Blumröder ohne Widerspruch und kopflos, setzt man sich dem unerwünschten Zwang aus, entscheiden zu müssen, ob man Stockhausen in allen seinen antediluvianischen ideologischen Fixierungen sich ergibt oder ob man mit seiner Musik tel quel nichts mehr zu tun haben will. Die Musikwissenschaft hat in ihrem kurzen hundertjährigen Bestehen nur als Ausnahmen vernünftige Wissenschaftler hervorgebracht. Blumröders Zwang, die Dinge in den Engpass des Entweder-Oders zu führen, ist bewährtes Zeugnis einer Disziplin, die in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft nie über einen Kinderglauben hinausgekommen ist. Gerade da, wo die geistige Aktivität erst mit Lust in Schwung kommen müsste, in der Vermittlung der Dinge, der Begriffe und ihrer Verhältnisse, verteufelt sie die Auseinandersetzung, eben weil sie doch die entscheidenden Begriffe zum dankbaren Nutzen der Allgemeinheit erst gerade gefunden hätte. Aber wichtig ist nicht, ob die Musik religiös ist; wichtig ist, ob in den Werken eine Haltung sich breit macht, die es den gesellschaftlichen Akteuren peu à peu schwieriger macht, den Schuldzusammenhang wahrzunehmen, von dem sie ein Teil sind. Und diese Frage ist in der Musik Stockhausens alles andere als entschieden.