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Geoffrey Winthrop Youngs Besteigung des Weisshorn Westgrates,

mit den Bergführern

Louis und Benoît Theytaz aus dem Val d‘Anniviers:

 

„Wir brachen [am 7. 9. 1900] bei einer Dunkelheit auf, die sich zwischen den zerstreuten Bündeln Sternenlichtes zu schwarzer Finsternis zusammenballte. [1] Trotz unserer vorhergehenden Erkundungsgänge verloren wir viel Zeit in den Gletscherbrüchen; bis wir den Bergschrund und eine riesenhafte Eisstirne am abgerundeten unteren Ende unserer erwählten Rippe überwunden hatten, war es bereits heller, eisig kalter Morgen geworden. Diese Rippe läuft über ein Chaos von Platten vom grossen Turm auf dem Weisshornnordgrat bis hinunter zum Gletscher. Man könnte sie mit einer versteinerten Riesenschlange vergleichen, die mit dem Genick am Turm oben hängt und deren Schwanz den Gletscher in der Tiefe peitscht.

In dem heftigen Verlangen, meinen Anteil an der Arbeit zu leisten und die Kraft des Führers zu schonen, bestand ich darauf, am Anfang die Führung zu übernehmen. Eine Zeitlang kamen wir rasch vorwärts. Der nächtliche Reif wich von den Felsen in dem Mass, als die Sonne höher stieg. Mit hochgespannten Hoffnungen steuerten wir eine Strecke weit nach links hinaus, wo uns ein bereiftes Felsband und ein Schneeflecken hilfreich winkten. Aber die Steilheit und Unzugänglichkeit der ungeheuern Platten, die dem Weisshorn auf dieser Seite sein Gepräge geben, trieben uns bald wieder auf unsere Felsrippe zurück. Je höher wir stiegen, desto geringer wurden die Möglichkeiten, nach der Seite auszuweichen oder Umgehungsmanöver zu machen. Auch richtete sich der Schlangenrücken, auf den wir uns beschränkt sahen, immer starrer und steiler in die Höhe. Hin und wieder schienen die Verrenkungen seiner Rückenwirbel beinahe unübersteigbar. Nachdem wiederholt mehrere solcher Stellen zu überwinden gewesen waren, bei denen Unterstützung des Führers durch den zweiten Mann ganz einfach unerlässlich wurde, änderten wir die Reihenfolge. Bei aufgeschlossenem Klettern, da die Hilfe eines zweiten für den Führer notwendig wird, arbeiten zwei Führer gewohnheitsmäs-sig besser zusammen als Führer und Tourist, und die Brüder Theytaz ergänzten einander auf bewundernswerte Weise. So kehrten wird das Seil um, Benoît kam an die Spitze und ich an den Schluss. Als Entschädigung erhielt ich Benoîts Rucksack und später auch noch denjenigen von Louis. Ich hatte damals noch nicht herausgefunden, dass es, wenn ich mit Führern kletterte, ratsamer war, selbst nichts im Rucksack mitzutragen, damit ich ein um so fröhlicheres Gesicht wahren konnte, wenn der unvermeidliche Augenblick kam, da sich ihre Säcke auf meinen Schultern aufzuhäufen begannen. [2]

(…)

Wir waren am Fuss der grossen ‚Stufe‘ angelangt oder an der Rückgratsverrenkung unseres Grates, die, wie wir wussten, die eigentliche Schwierigkeit unserer Kletterei bedeutete. Oft hatten wir sie von unten her genau geprüft, durch jede Art von Fernrohr. Über unsern Köpfen erhob sich eine hohe graue Mauer. Die sich gegen die Front dieser Mauer hinaufschwingende Kante unserer Rippe war aussichtslos. Aber durch das Fernrohr hatte uns geschienen, als ob etwas tiefer unten, links um den Felsen, wo der Grat auf die graue Wand stiess, ein Riss oder wenigstens der senkrechte Winkel eine Durchstiegsmöglichkeit bieten könnte. Wir blickten uns um und erspähten ein Felsband, das von der Rundung der Rippe hinweg schräg nach links hinunter und in den senkrechten Winkel führte. Es war ein schmales Band zerbröckelnden, durch Eis zusammengekitteten Gesteins, das erst mit dem Pickel für die Füsse in Form geschlagen werden musste. Aber auf halbem Weg bestand eine ausgezeichnete Sicherungsmöglichkeit hinter einem gespaltenen Felsblock, und auch dort, wo das Band im Felswinkel endete, gab es genügend Raum zum Stehen.

 

 

Ich legte das Seil zweimal um den gespaltenen Block und wartete, während die Brüder das Band entlang bis zum Winkel weitergingen. Dort aber fand sich kein Riss. Es war eine rechtwinklige Ecke, etwa zwölf Meter hoch, mit glatten Wänden, die oben durch einen vorstehenden Wulst abgesperrt wurde. Benoît kletterte ermutigend bis zur halben Höhe des Winkels; dort hörten die Griffe auf. Louis folgte ihm, und indem er, die Beine über den weiten Winkel gespreizt, auf unsichtbaren Tritten Halt fasste, gelang es ihm mit seinem unglaublich sicheren Gleichgewicht und seiner Kraft dem Bruder als Fussstütze zu dienen, erst mit den Schultern, dann mit dem Kopf und schliesslich mit der Pickelhaue, auf der er ihn mit aller Kraft seiner Arme in die Höhe stemmte. Jetzt befand sich Benoît in Reichweite des vorstehenden Wulstes. Er suchte sich daran zu halten und tastete sich weiter um ihn herum bis an die jähe rechte Wand des Winkels. Zweimal zog er sich zappelnd und prustend mit einer Hand hinauf, und zweimal glitt er wieder auf den Pickel zurück. Dann, beim dritten Versuch, schwang er sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit empor. Begeistert rief ich ihm von meiner Stehplatzgalerie aus zu, als ich sah, wie er über den Wulstrand krabbelte und seine Schultern nach oben in die Öffnung eines schmalen Eiskamins zwängte, der sich zu unserer Rechten steil für weitere achtzehn Meter in die Höhe zog und über der ‚Stufe‘ wieder auf unsere Felsrippe führte. Zu jener Zeit befand sich die von den Lochmatter und Knubel entwickelte Felstechnik noch in ihren ersten Kinderschuhen. Der Anblick, wie Benoît wiederholt unseren feststehenden Auffassungen von Unmöglichkeit Trotz bot, erfüllte mich mit neuem, erwartungsvollem Staunen. (…)

(…) Als ich mich etwas nach vorne neigte, sah ich zwischen meinen Knien hindurch senkrecht auf endlos von unserm Winkel aus in die Tiefe stürzende Platten; sie saugten meinen Blick mit der unangenehmen Wirkung in den Abgrund, den ein plötzlich sich in Bewegung setzender Lift unter dem Zwerchfell hervorruft. Louis stiess mit einem Satz von meinem Kopf ab, der mich beinahe aus dem Stand hob. Innerhalb weniger Sekunden war er oben, kräftig mit den Stiefeln ausschlagend, während er das obere Drittel seines Körpers in den Beginn des Eiskamins zwängte.

In diesem Augenblick kam ein verzweifelter Ruf von Benoît, und eine wahrscheinlich durch das Seil losgelöste Steinplatte sauste gegen die Wolken hinaus und schlug flach, doch zum Glück nur leicht streifend auf Louis‘ breitem Rücken auf. Er selbst wurde nicht einmal geschürft, hingegen ging jede einzelne Flasche in seinem Rucksack in Scherben. (…) Als (…) das Gemisch von (weissem und rotem Wein) purpurrot und gelb in Bächlein und Spritzern gerade über meinem Kopf an der Felswand herunterrann, konnte ich im Gedanken an die Moral der Enthaltsamkeit ein Kichern nicht unterdrücken. Doch der Felsbrocken machte in seiner Predigt keine Unterschiede. Als er von Louis abglitt, traf er mit der Kante meinen rechten Arm, riss mir den Handrücken auf und lähmte meine Schulter.

Hier war nicht der Ort für erste Hilfe, und als Louis mir ungestüm zurief, ich solle nachkommen, tat ich unbeholfen und widerspruchslos mein Bestes – aber auch ohne stützende Kopf, der mir half, mich über den vorstehenden Fels zu hissen – ohne meinen rechten Arm. Irgendwie krabbelte ich bis unten an den Wulst. Aber mich darüber und in den Eiskamin zu schwingen, das war mir unmöglich: für diesen einhändigen Griff und Stemmschwung konnte ich mich nicht auf meinen empfindungslosen Arm verlassen. Ich klärte den unsichtbar im oberen Kamin steckenden Louis rufend über meine Notlage auf. Seine ganze Antwort lautete, es müsse gehen, mit dem warnenden Nachsatz, er könne mich wohl halten, sei aber nicht in der Lage, mich am Seil hinaufzuziehen.

(…) Ich versuchte mich hinaufzuschwingen. In meinem Arm gab es einen schwachen Knacks, und ich baumelte über einer vielsagenden Leere. Sofort war mir klar, dass ich, da Louis nicht mehr tun konnte, als das Seil, an dem ich hing, festzuhalten, irgendwie am Seil emporklettern musste. Ich muss wohl sagen, selbst für einen jungen Menschen ist das ein kaum ausführbares Kunststück, wenn er am Ende eines dünnen, um die Brust geknoteten Bergseils pendelt. Mehrere Male versuchte ich, mich mit der linken Hand am Seil emporzuziehen, fiel aber stets wieder zurück. Dann zwang ich die rechte Hand zur Mitarbeit und gewann auf diese Weise einige Zentimeter, die ich mit Hilfe der Zähne zu halten versuchte. Zappelnd erwischte ich schliesslich mit den Schuhnägeln eine Rauheit am Felsen, was die Aufgabe für die Arme erleichterte. Die Hände griffen wieder einige Zentimeter Seil höher, ich erspähte links hoch über mir am vorhängenden Fels einen Griff, wand mich bis in Reichweite, und dann hatte ich meine Schultern im Nu im untern Ende des Eiskamins verankert.

Benoît kletterte jetzt bis auf den Grat über dem Kamin hinaus. Louis und ich schlängelten und schoben uns ungraziös dicht aufgeschlossen hinter ihm durch die eisbewehrte Spalte. Und dann standen wir alle siegreich über der schrecklichen ‚Stufe‘. Meine Hand wurde rasch verbunden (…) und, das Beste von allem: der rücksichtslose Gebrauch des gefühllosen Armes hatte Wunder gewirkt, er plagte mich den ganzen Tag nicht mehr.

(…) Als wir unter den Schatten des mächtigen Nordgrates kamen, schwang sich unser Nebengrat brüsk aufwärts, als Stützpfeiler des Nordturmes, der über uns aus dem Grat emporwuchs. Dieser emporstürmende Fels aber sah uneinnehmbar aus. Unsere einzige Möglichkeit bestand darin, von der Felsrippe nach rechts in die anschliessende Wand hinauszusteigen und uns über die Platten zu einem Einschnitt am Horizont knapp südlich des Turmes hinaufzuarbeiten.

In dem Mass, als die Felsrippe sich aufrichtete, war der anschliessende Plattenhang rechts von uns tiefer und tiefer zurückgesunken. Stellenweise neigte sich die schlecht gestützte rechte Wand der Rippe mit ihren schwindelnden Felsgesimsen und hängenden Traufen beinahe über die Platten hinaus. Aber hinter einem Türmchen, das wie ein Schildwachhäuschen am Fuss des Pfeilers steht, entdeckten wir einen geeigneten senkrecht hinunterführenden Kamin. Und dieser lud uns, zusammen mit einem Teil seines losen Inhaltes, auf den unteren Platten aus.

Die glatte Wand steigt steil an. Aber gleich einem halbgeöffneten Fächer, dem sie auch tatsächlich ähnlich sieht, beginnt die nackte Weite der Felsen hier bereits sich leicht zu fälteln und auszukehlen, in Übereinstimmung mit den auf dem kleinen Pass über uns zusammenlaufenden Fächerrippen. Wir arbeiteten uns quer über die Platten empor auf einen Riss in dem glitzernden, den Grat säumenden Schneeband zu. Die Platten waren aussergewöhnlich griffarm und mit Eis durchsetzt. Dies war der einzige Abschnitt des Aufstieges, wo es wenigstens einem von uns unmöglich war, sich irgendwie zu sichern. Hier und an der ‚Stufe‘ würde sich nach meinem Dafürhalten das Anbringen eines festen Seils rechtfertigen, falls diese Seite des Berges als allen Klassen von Kletterern zugänglich betrachtet würde. (…) Nur zu bald krochen wir durch die Miniaturwächte und rieben uns im Sonnenlicht, das den Nordgrat wie unter einer Zuckerglasur aufleuchten liess, die Hände warm. Drei Stunden für den Gletscher und nur viereinviertel Stunden für die Felsrippe – sie hatte uns einen guten Dienst geleistet.

(…)

Mit der gezielten Genauigkeit eines Rapiers bei einer Riposte stiess die Schneeklinge des Nordgrates von unsern Füssen weg zu dem vollkommenen Gipfel der Weisshornpyramide empor. Es war schwer, mit dieser Herausforderung vor Augen spröde auf einem mit Eisflitter überzogenen Buckel zu sitzen und ein gemächliches Frühstück auszuhalten. Ich bezeigte Louis mein Beileid, als er den zersplitterten Mischmasch aus seinem Rucksack herausbeförderte (…).

Dann stürmten wir den Grat entlang empor, so mühelos, als liefe die Schneeklinge unter unsern Füssen mit, und in weniger als einer Stunde betraten wir triumphierend die Spitze.

(…)

Durch unsern Erfolg beschwingt, stiegen wir im Eiltempo über unsern Schneegrat zum Nortturm hinunter. Diesmal erkletterten wir ihn bis zur Spitze, aus reinem Vergnügen am Klettern und um über die abschreckende Steilheit unseres Schlangengrates vom Morgen hinunterblicken zu können. Dann nahmen wir den langen, zinnenbewehrten Nordgrat in Angriff. Ein schiefer Turm folgte dem andern, dunkel ein jeder und mit einer Schneemütze; Gratkamm, Spitzen und Überhang waren in Eis und Schnee gefasst. (…) Die Abmachung für den nächsten Tag trieb uns, nach meinem Empfinden, zu einer für solche Kletterei unvernünftigen Eile an. Ich wurde übelgelaunt, was eben vorkommt, wenn man jung und müde ist, doch war ich vernünftig genug, es nicht zu zeigen. (…)

Durch ganze Äonen dunkeln Aufbietens aller Kräfte und einen rabenschwarzen Schlamm von Gedanken krochen wir dahin, bis der Albdruck der ununterbrochenen Reihe von Türmen auf der Eisschulter des Weisshornjochs schliesslich ein Ende nahm. Mühsam machte Louis sich daran, über den steilen westlichen Absturz hinunter Stufen zu schlagen. Jedes müde ‚päng‘ seines Pickels tönte wie ein Protestschrei. Wir waren bis zur äussersten Reizbarkeit abgeschunden und empfanden es gegenseitig. (…)

Verbissen trampelten wir über den weichen Schnee des Turtmanngletschers abwärts. Die Silhouette von Louis, wie er mit hängendem Kopf und hängenden Schultern müde, von einem Fuss auf den andern schwankend, schwarz gegen die rote Scheibe der untergehenden Sonne abgehoben, vor mir herging, steht seither als das Urbild eines müden Mannes vor meinem Geist.

Wir schleppten uns über den Col de Tracuit. (…)

Schliesslich kamen wir noch vor Einbruch der Nacht in Zinal an, siebeneinhalb Stunden nachdem wir den Gipfel verlassen hatten. (…)

Sooft ich auch in spätern Jahren wieder auf das Weisshorn stieg, nie habe ich unsere damals so ergötzliche Rippe wieder aufgesucht, vielleicht aus einem triftigen Grund. Um jenen Aufstieg beliebter zu machen, hatten die Zinaler Führer die Route mit gut neunhundert Meter fixen Seils versehen. Wenn immer ich Knubel auf dem Gipfel jene Rippe für den Abstieg vorschlug, vermied er es taktvoll und höflich, sie bei dem Namen zu nennen, den man ihr auf der Zinaler Seite gegeben hatte, und brachte mit seinem üblichen kindlichen Ernst den Zweifel zum Ausdruck, ob man einen so schönen Nachmittag für einen Abstieg opfern dürfe, von dem man auf seiner Seite des Weisshorns nur als ‚Par les cordes‘ sprach.“ (Young 1955, 74 ff)

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[1] „Ganz aus Gewohnheit klang die französische Zunge [wohl besser: das frz. Patois; U. R.] meiner gegenwärtigen Gefährten in einem kritischen Augenblick nie so vertraut an meinem Ohr, auch schien sie mir nicht so unmittelbar der Gemütsstimmung in den Bergen zu entsprechen. Alles in allem fühlte ich mich ein wenig einsam.“ (74) – „(Das Walliserdeutsch ist) ein heiserer, kehliger Dialekt, eher eine mit den Lungen als mit dem Mund gesprochene Sprache, die mir immer als die einzig richtige Sprache für die Berge vorkam.“ (15)

 

[2] Der mit Abstand aufschlußreichste Text über die Walliser Bergführer deponierte Bernard Crettaz, dem das Patent wegen der löblichen militarismuskritischen Einstellung verweigert wurde, in Antonietti 1994.

 

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