1. Der einzelne und die Gefühle der Sympathie und Antipathie
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des sozialen Umgangs, daß aus Antipathien nicht mit Notwendigkeit katastrophische Szenerien herauswachsen müssen; das Empfinden eines anderen als unsympathisch führt nicht zu einem Urteil, das wahr oder falsch wäre. Selbst die ausgesprochene Bekundung eines Mißfallens braucht nicht dramatisch zu werden, sofern dem anderen die Möglichkeit des
Antwortens nicht nur zugestanden wird, sondern dieses Antworten auch erfolgen kann ohne zu dementieren – ohne abwehren oder sich rechtfertigen zu müssen. Stehen zwei in einem Kommunikationsverhältnis, das sie zum Sprechen überhaupt und zum Sprechen übereinander zwingt, und sind die beiden einander wie harmlos milde oder ausgeprägt ätzend auch immer unsympathisch, kann diese
Beziehung über Jahre hinweg ohne nennenswerten Streit aufrechterhalten bleiben, wenn beim Sprechen übereinander die Aussagen so formuliert werden, daß logisch es vom anderen, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, nicht nötig wird, mit einem Dementi oder einer Rechtfertigung zu antworten, obwohl er, wie gesagt, zum Weitersprechen, also zur Beantwortung des frechen Statements angehalten
wird. Entscheidend ist die Art der Provokation, die mit der Wertung immer gegeben ist, die aber über die Werte hinweggleiten kann als wäre das böse Zielen in ihnen längst kraftlos erstickt und nur noch Zeichen kampflos ohne jeden Schlag, der eine Abwehr oder einen Gegenschlag notwendig zur Folge hätte; gleichzeitig ist in der Provokation alles aus den Werten, die das totale
Nichteinverständnis zum Ausdruck bringen ausgelassen, was das Verhältnis aufzulösen drohte. Es ist die Komplexität der Sprache, die es zuläßt, negative Wertungen zu artikulieren, ohne dieselben logisch verbindlich erscheinen zu lassen, ohne sie also in einem Grund-Folge-Verhältnis festbinden zu müssen. Was vor aller Sprache erscheint, ist dann die Gleichzeitigkeit der Wertung und
der Subjektivität. Da die letztere vom Leiblichen nicht zu abstrahieren ist, wird durch das bloße Akzeptieren des anderen, das im Kommunikationsverhältnis vorausgesetzt wird, auch die Werthaltung, die – normalerweise gänzlich konfus und weder der einen noch der anderen Seite bewußt – die Antipathie konstituiert, als solche hingenommen und akzeptiert. Antipathien können
existieren und ausgelebt werden – in der Tat während eines ganzen Lebens – ohne Bestandteil eines argumentativen Zusammenhangs zu werden.
2. Innerhalb und zwischen den Gruppen sind die Wertungen und das Subjektive vermittelt: sie erscheinen als Herausforderung
Gänzlich anders steht es um das Urteilen über soziale Gruppen, weil hier die Worte nicht mehr nur schemenhaft und schematisiert erscheinen können, sondern selbst nun körperhaft werden, materiell: Verdinglichungen. Die Verdinglichung, die, etwas verzögert, nach onto- wie phylogenetisch früheren Phasen – nicht am Anfang jedes Menschenlebens und nicht am Anfang der Kulturgeschichte
– die Sprache in der Welt der sozialisierten Erwachsenen prägt, stellt sich alleine durch den primitiven Vorgang der Wiederholung ein, die während einer Artikulation innerhalb einer Gruppe in bezug auf eine Gruppe, die eine andere sein kann oder dieselbe, unumgänglich zum Zuge kommt. Mit der Wiederholung, die nötig ist, wenn alle in der Gruppe das Gesagte verstehen sollen, ergibt
sich a) die Verdinglichung in der Sprache, aber auch b) das Gefühl der Identität im Bewußtsein innerhalb und gegenüber der Gruppe. Weil die Wertungen jetzt massiv erscheinen, erzeugen sie unumgehbar ein Feld der Rechtfertigung – ein Handlungsfeld sowohl des Argumentierens wie der physischen Abwehr. Die letztere, Ausdruck des Scheiterns der Diskurse, strukturiert sich gemäß der
Art und Weise der Identität der Gruppe, die als deren Subjektivität an kein Leibliches mehr gebunden ist: blind, wo die Gruppe als Block erscheint, witzig da, wo die Identität der Gruppe selbst eine eigene diskursive Formation, die sie permanent in Frage stellt, geschaffen hat. Man muß es wohl als Normalfall hinnehmen, daß eine Grenze zwischen dem Diskursiven und der kämpferischen
Abwehr nicht zu ziehen wäre: Da das diskursive Handeln bis aufs Äußerste vom guten Willen abhängig ist, erscheint der gesellschaftliche Ausdruck von Gruppen auch ohne eigentlichen Entscheid schnell als aggressiv, obwohl er sich auch bei der Einforderung eines Rechtsanspruches nur auf sachliche Organisationsfragen der Gesellschaft bezieht. So leicht es ist auf der individuellen Ebene,
Antipathien in Zaum zu halten, so leicht geschieht es auf dem Feld der Gruppen, daß sie auch dann aggressiv erscheinen, wenn sie bloß zum Verstehen geben wollen, daß gesellschaftlich eine bestimmte Frage anders zu organisieren wäre als bis anhin. - Scheinbar gänzlich außerhalb des Horizonts von Rechtsstreitigkeiten, nichtsdestoweniger vom Machtwillen verführt, geschieht eine
häufige Antipathie auf dem Gebiet der Reisephantasie, auf einem Terrain, das doch schlechten Verkehr und schlechte Gefühle kaum begünstigt. Es behauptet mal harmlos, mal ärgerlich, mal unverhohlen rassistisch, eine Landschaft könne zwar äußerst reizvoll erscheinen, deren Bevölkerung müsse aber in irgendeiner Weise negativ charakterisiert werden. Sosehr die Berge die Touristen
physisch und ästhetisch ergreifen, sowenig imponieren die Bergbauern auf dem Gebiet der kulturellen und gesellschaftlichen Aktivitäten, weil jene Berge ihnen jede Weitsicht immer schon genommen hätten. Wie auf dem Gebiet der individuellen Antipathie gibt es auch hier unendlich viele Weisen, Negatives zum Ausruck zu bringen; die Urteile können mehr oder weniger begrifflich deutlich
und distinkt artikuliert werden. Da sie nur selten einer größeren Untersuchung ausgesetzt werden, bilden sie nachgerade eine Hölle von Vorurteilen, die die betroffenen sozialen Gruppen hilflos schmoren lassen.
3. Das Vorurteil ist ein Bild der Selbstrepräsentation
Und ein solches Urteil existiert beharrlich auch über die Gesellschaft des Kantons Wallis, weshalb es in dieser ungeschützten Form – kühn und kritisch – ausgesprochen werden soll. Vielleicht ist dieses Urteil nur ein nebulöses Bild, das mehr über den Charakter des Sprechenden verrät als daß es Substantielles über den Gegenstand zu sagen vermöchte, vielleicht ist es ein altes böses Vorurteil aus der realen Geschichte, das durch seine Langlebigkeit erst im Gegenstand die bespotteten Verhältnisse erzeugte, als Gefühl des schlechten Daseins. Um an dieser Stelle nicht dumpf
Beispiele des sozialen Lebens aneinander zu reihen, die in einer langen Kette sehr wohl, wenn auch nur mit spitzen Händen, den Urteilen zum Vergleich ausgesetzt werden könnten, wird das Gefühl der Antipathie in eine These gefaßt, deren Wahrheitsanspruch von beiden Seiten, also objektiv geprüft werden kann: Was im Wallis schlecht ist, sind alle diejenigen sozialen Akte und
Handlungen, die kausal unter anderem auch verknüpft sind mit irgendeiner Form der Selbstrepräsentation, mit einer Etikettierung, die sagt, das kommt aus dem Wallis, das gehört ins Wallis, das entstammt uns WalliserInnen etc. In der Selbstrepräsentation ist hypothetisch der Herd des Übels zu sehen, und in ihr liegt auch der Schlüssel zur Änderung auf beiden Seiten: zur Änderung
sowohl des Zustandes in der Landschaft wie der schlechten Urteile und Vorurteile über sie, weil die Hypothese Teil des Bildes ist über sie als eben ein Vorurteil, das sich, wenn es nur genügend breit artikuliert und exponiert wird, von alleine obsolet machen kann. (Wenn das Bild vollständig sein soll, werden sich noch Zusätze einstellen müssen wie die angesprochenen Beispiele des
sozialen Lebens.)
Der Begriff der Selbstrepräsentation als Selbstbild und Selbstwertgefühl beschreibt kein Phänomen, von dem man sagen könnte, daß es entweder anwesend oder abwesend sei, keines, das durch Kritik in eine gute Form gebracht werden könnte; die Selbstrepräsentation erscheint, ohne als identifizierbare Einheit Erscheinung zu sein. Es gibt hier kein Gefühl, das vor aller Sprache sich auf ein Materielles beziehen würde. Ihr Erscheinen erfolgt nur da, wo ein Subjekt bereits Präsenz zeigt. Sowohl das Subjekt wie die Selbstrepräsentation, die nur jenes begleitet, als Zusatz, können mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, indem sie den sozialen Akt, den Sprechakt und die Handlung mehr oder weniger stark prägen. Das heißt, daß das schlechte Gefühl gegenüber der Gruppe zwar sehr heftig sein kann und sich rückhaltlos bis in den Rassismus hineinzusteigern vermag, daß es aber aus strukturellen Gründen, die mit dieser Gruppe selbst nichts zu tun haben, immer so sein wird, daß es unzählige empirische Tatsachen gibt, von denen sich nicht sagen läßt, ob ihnen überhaupt ein Subjekt zugrundeliegt, in dessen Bereich die Selbstrepräsentation eine Funktion innehaben könnte, mit der das Gefühl korrespondierte. Das Schlechte wird auch auf Ereignisse bezogen, in welchen sich kein Subjekt identifizieren läßt. Zudem gibt es wegen der Supplementarität Erscheinungsweisen des Subjekts, die kaum von der Selbstrepräsentation begleitet werden; diese ist dann gänzlich verborgen oder unbedeutend sowohl für das erscheinende wie für ein anderes, deutendes Subjekt.
4. Das Subjektive der Gruppe erscheint als Selbstbewußtsein und als Struktur
Da es also a) nicht eindeutig ist, wie die Subjektivität in einem Gebilde begriffen werden soll und b) das Subjekt scheinbar auch ohne Selbstrepräsentation erscheint, lastet alles Problematische auf dem Begriff des Subjekts; dessen Bestimmungen allein müssen die Spuren verdeutlichen, die das Schlechte benennbar machen.
Gewöhnlich wird in der Theorie des Subjekts entweder die Seite des Bewußtseins und der Intention oder die seiner Existenz als Effekt einer anonymen linguistischen Struktur hervorgehoben. Nichts spricht aber dagegen, mit dem Widerspruch ernst zu machen und beide gleichrangig einzuschätzen, auch wenn sie nicht dialektisch vermittelbar erscheinen. Entscheidend ist, daß nur da von einem Subjekt gesprochen werden soll, wo sowohl das Helle und Freie der Intention wie das Anonyme der Struktur offengelegt werden. Überhaupt nicht dazu bestimmt, den freien Willen zu verkörpern, ist das Subjekt doch auch nicht das Opfer seiner Umstände, eher die Summe dieser Elemente, wenn sie in ihrer reinen Form belassen werden, der des freien, kritisierbaren Willens wie auch des bloßen geistlosen Effekts einer übermächtigen Struktur, sei sie physisch, biologisch, linguistisch oder sozial. Diese Bestimmungen des Subjekts streifen keine psychologischen Gehalte, sondern stellen wahrnehmbare Phänomene dar, Selbstbewußtsein und Struktur, untrennbar in dem Moment, wo das Subjekt erscheint.
5. Die Akte der Gruppe erscheinen individuell und gruppenmäßig, subjektivistisch und kritisch
Die Ökonomie der sozialen Akte und Handlungen ist nun aufteilbar in individuelle und gruppenmäßige, die beide problematisch oder unproblematisch sein können. Diese Hälften werden durch zwei gegenläufige Tendenzen zusammengehalten, deren Ausprägung den Charakter der Subjektivität der Ereignisse bestimmt: die eine verliert sich in der anonymen Struktur und den allgemeinen Gebilden
der Kultur – sie strukturiert die unproblematischen sozialen Akte und Handlungen; die andere bezeichnet die subjektive Intention, die Abwehr des Objektiven und die Überreizung der Ressourcen – sie macht das soziale Leben problematisch, weil die Selbstrepräsentation den Bereich des sachlichen Urteilens überlagert. Folglich sind es nicht die sozialen Gruppen selbst, die schlecht
sind, auch nicht diejenigen, die motivierte Vorurteile äußern, sondern Entscheide im sozialen und politischen Leben, die immer auch anders hätten getätigt werden können und schlecht einzig dadurch geworden sind, daß erstens dem Subjekt gegenüber dem Objekt Vorrang gewährt wurde und zweitens der Akt der Fixierung auf jenes – die Selbstrepräsentation – in der Rechtfertigung
der Handlung nicht kritisch mit einbezogen worden ist.
6. Nicht die Bevölkerung steht zur Kritik, sondern die Protagonisten der Politik, der Verwaltung und des Tourismus, die das Wallis in einem besonderen Licht erscheinen lassen wollen
Ein solches Vorgehen, das mit Bedacht alles Essentielle und Wesenhafte ausklammert, um sprachliche Äußerungen, die bei klarem Verstand und also unter Verantwortung getätigt wurden, allein auf den Prüfstand zu heben, läßt die Kritik sich um so stärker entfalten, als sie dieselbe vor dem Sog des Kulturrelativismus rettet, der das Sprechen über fremde Kulturen zensuriert, als ob
diese Schutz von außen benötigten – als hätten sie objektiv zu wenig an Kultur, als wären die Walliser ohne. Dieses Vorgehen ermöglicht desto ungezwungener, den sumpfigen Boden einer schlechten zu meliorieren, indem es das scheinbar Kulturelle als das wirklich Schlechte des gewöhnlichen politischen Willens erkennbar macht. Da dieser eben nicht im gesellschaftlichen Leben wurzelt,
sondern aus dem Systematischen der Gesellschaft abzuleiten ist, das jenes unter Zwang hält, zielt die Kritik weniger auf das Wallis, wie es empirisch erscheint, als auf diejenigen Instanzen der Politik und Administration, die es in einem besonderen Licht erscheinen lassen wollen.
Zusatz: Vom Schlechten in alter Zeit.
Einst war Prag der schönste der Orte im Wallis, wo Ludmilla mit den Ihrigen, und sie ist von vielen die Urururururururururgroßmutter, im großen Glück das Leben genoß. Wer die Stadt besuchte, wurde schonend auf ihre blendende Schönheit vorbereitet, indem er zunächst auf der hübschen Jolialp noch bewirtet wurde, von wo Prag in seiner ganzen Pracht zu bewundern war. Doch die Walliser, trotzigere Dickschädel als die sanftblütigen Tschechen immer schon, belustigten sich ob der Mühsal des Weges hin zu Prag und von da fort, als wären die Prager Gefangene recht eigentlich der Schönheit ihrer Stadt. Da nahm der Allmächtige das ganze Volk der Verspotteten, bot ihm Platz weit weg im nördlichen Osten, verbrannte die Erde des alten Ortes und ließ einzig zurück steile und versteppte Hänge mit den abgründigsten unzivilisierbaren Steinbockpfaden. – Seither scheinen die hübsche Alp und die erinnerte Schöne in entzweiten Richtungen dahinzurosten.
Tatz, Kistenhorn, Seetal, Prag mit Seilegge und Eschwäng (rechts)