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Am Rande, die Absicht

 

Der Dammbruch des Tausches am Ende des 20. Jahrhunderts tilgt den Lauf der Anstrengung und vernebelt die Bedingungen der Möglichkeit der Einsicht in sie. Die Korrespondenz zwischen dem Tausch im sozialen Raum und dem egoistischen Eigennutz, der jenem im Konsum huldigt, indem er das gereinigte Technologische der Waren im unumgänglichen Akt der Aufmerksamkeit ausblendet, macht die Anstrengung und den Aufschub im Empirisch-Privaten überflüssig und im Anblick des anderen lächerlich; auf dem weiten Feld der verbindlichen Theorie zum Nonsense. Nicht nur triumphiert historisch die Idee des freien Marktes gleichwie des blöden Egoismus über die alte der vernünftigen Planung und Organisation, sondern in der Wissenschaft als dem Reich der Reflexion existiert einzig der reflexionslose Positivismus. Dessen Namen als Neoutilitarismus, Entscheidungstheorie, Pragmatismus bis hin zu einigen System-, Diskurs- und Kommunikationstheorien bezeichnen ein solches Wissenschaftsprogramm, das den Menschen nur dann als vernünftig betrachtet, wenn er die Anstrengung optimal zu reduzieren weiß; was die Zweckrationalität übersteigt, untersteht dem Verdacht des Obskurantismus. [1]

 

Einer anderen Geschichte ausgesetzt ist die Kritik als reflektierend-reflektierte Vermittlung – auffällige Nachbarin der Anstrengung. Gerade wo diese breit sich realisierte, bot sie unverhofft auch Gebieten Raum, idealtypisch im Wallis, wo die Vermittlung nie jemals einen Fuß hinsetzen zu wagen scheint. Sosehr der Aufschub als Voraussetzung der Kritik in der Gesellschaftsformation, also sozial verdrängt wird, sosehr bedrängen die Möglichkeiten der Anstrengung und drängen hervor. Die Landschaft Wallis ist in Fülle mit Widerständen durchsetzt, die nur mit Anstrengung zu überwinden sind.

 

Wie das vielleicht zu betrachten wäre, klassisch, empirisch, rapportiert der berglustige Ausländer Finch unter dem Titel Eine Monte Rosa-Überschreitung:

 

„(…) Die Marinellihütte steht angelehnt an eine etwas überhängende Wand, auf einer Höhe von etwa 3100 m, am Jägerrücken. (…) Am 9. August [1911], um 1 Uhr 5 Min. morgens, verließen wir bei Mondschein, in zwei Partien angeseilt, die Hütte. Case und ich gingen voran, von Max und Obexer in kurzer Entfernung gefolgt. Nach wenigen Minuten standen wir auf der das Marinellicouloir einengenden Felsnase. [2] Ein Blick nach oben – alles war ruhig. Es wehte kaum ein Lüftchen, und es herrschte beträchtliche Kälte. Eine erste Stufe im morschen Schmelzwassereis, und der Angriff war begonnen. Bald war harter Firn erreicht, und dann, obwohl die Neigung 46º betrug, konnten wir dank den Steigeisen im Laufschritt immer ein wenig ansteigend vorwärts kommen. Mehrere mit Eis ausgekleidete Lawinenrinnen mußten in gehackten Stufen überschritten werden. Das Passieren zweier solcher Rinnen bot größere Schwierigkeiten. Diese beiden Rinnen waren über vier Meter tief und fünf Meter breit; dazu waren sie mit Eis ausgekleidet und hatten stark unterhöhlte Ränder. Das Einsteigen in eine Rinne war leicht genug – ein etwas sensationeller Sprung, durch den Draußenstehenden am Seil gesichert, und man stand (oder lag vollgestreckt) auf dem Boden der Rinne, vom Seil gehalten! Der Ausstieg jedoch war eine ganz andere Sache. Zum Hacken der ersten zwei oder drei Stufen konnten beide Arme benützt werden; nachher, als Handgriffe nötig wurden, konnte man den Pickel nur mit der linken Hand schwingen, denn rechts war die stark geneigt Fläche des Couloirs. Nach der gelungenen Überschreitung der zweiten Rinne ging es weiter, immer im Laufschritt, über den Hartgefrorenen steilen Firn bis zu den Felsen des Imsengrückens zu, wo wir 35 Minuten nach verlassen der Hütte ankamen.

Monte Rosa (= Gletscherberg):
Signalkuppe, Zumsteinspitze, Grenzsattel, Dufourspitze, Silbersattel, Nordend

(…)

Wir hatten nun eine Höhe von zirka 3200 m erreicht. Die uns bevorstehende Kletterei den Rücken hinauf wurde munter angepackt, und wir hielten ein schnelles Tempo inne, dessen Grenze nur durch Herz- und Lungenfähigkeit festgesetzt wurde. (…) Die schwierigen und steileren Gratpartien wurden, um Zeit zu gewinnen, nach links in der von Eis- und Steinschlag gefährdeten Rinne umgangen. Zu oberst, in einer Höhe von etwa 3550 m, sind die Felsen fester, aber steiler, und bilden einen ziemlich scharfen Grat, der allmählich in eine schmale, anfänglich fast horizontale Firnschneide übergeht. Um 2 Uhr 30 Min., also 50 Minuten seit dem Betreten der Felsen etwa 350 m tiefer unten, wurde (…) der eigentliche Gipfel des Imsengrückens erreicht. Hier machten wir einen kurzen Halt, um beide Seile zusammenzuknüpfen. Nunmehr verband uns ein einziges 60 m langes Seil. Der Vorangehende hatte einen Seilabstand von über 25 m, die Nachfolgenden je etwa 15 m von Mann zu Mann.

Der Mond war vor einer halben Stunde hinter dem Kamm der Signalkuppe verschwunden, und die Dunkelheit hatte seitdem so zugenommen, daß die Laternen angezündet werden mußten. (…) Der Firngrat läuft in eine Eishalde aus, die durch eine kleine Felsinsel höher oben unterbrochen wird. Stufen hackend gewannen wir diese Felsen und fanden sie, trotz ihres plattigen Aussehens, verhältnismäßig leicht. (…) Die Eishänge, die von dieser Felsinsel hinaufführen, bilden das (orographisch) rechte Ufer des Marinellicouloirs, dessen Steilheit hier mindestens 50º beträgt. Eis kam überall zum Vorschein. Unzählige Lawinen hatten schon längst alle Reste von Schnee weggescheuert. (…) (Der) Eishang, an dem wir jetzt hinauf mußten, sah höchst unangenehm aus. [Fotobeispiele in Finch 1924, 15, 76, 271, 275]

 

Rechts, hoch oben am Nordend, brach eine mächtige Steinlawine los und schoß krachend durch einen Seitenkanal ins Marinellicouloir hinein. In der Dunkelheit konnten wir die Steine selbst nicht sehen, doch das laute Surren vorbeifliegender Blöcke und die Schneespritzer, die sie beim Aufschlagen auftrieben, zeigten uns, daß viele Steine abgesprengt waren. Ein großer Block schlug mit enormer Wucht ins Eis kurz unter uns ein.

Der Hang wurde angegriffen. Der Pickel tat seine Pflicht, und die Eissplitter fielen klirrend hinunter. Case band seine Laterne an das Ende seines Pickels und beleuchtete damit das Eis vor mir. Max vergrößerte und vertiefte die Stufen und schlug noch Zwischenstufen, damit der kurzbeinige Obexer, der die zweite Laterne trug, sich nicht gar zu sehr zu strecken brauchte. Die Steilheit nahm rasch zu; nach etwa 60 m ging das steile Eis in eine noch steilere Firnhalde über. In dem Firn jedoch genügten zwei oder drei kräftige Hiebe mit der Pickelhaue, um eine gute Stufe herzustellen. Der Firnhang ging in eine fast ebene Terrasse über, die unter einem riesigen, etwas überhangenden Serak endigte. Hier verschnauften wir fünf Minuten lang und versuchten durch Reiben ein bißchen Wärme in unsere halberfrorenen Hände zu bringen.

(…) Die Breite und Neigung dieser Terrasse wechselt sehr. An unserem gegenwärtigen Standpunkt war sie fast eben, aber kaum 2 m breit. Gegen die Mitte der Wand zu beträgt die Breite mindestens 50 m, bei ziemlicher Steilheit. Stellenweise ist das Band durch mächtige, kreuz und quer liegende Schründe unterbrochen und auch von tief eingeschnittenen Lawinenrinnen gekreuzt. (…) Nach fünf Minuten Rast begannen wir also die Durchquerung der Terrasse in südlicher Richtung. Es war ungefähr halb vier Uhr. Die Dunkelheit war fast vollkommen, und außer dem Bereiche des schwachen Laternenlichtes war nichts zu sehen. (…) Im ersten grauen Licht der Morgendämmerung wurde sofort erkannt, daß wir am Ende der Traverse angelangt waren und hier gerade hinauf mußten. (…) Obexer manipulierte die Laterne und machte in rascher Folge eine Reihe ermutigende Witze. Doch die Sache stellte sich viel besser heraus, als wir geahnt hatten. Denn der Schnee war in ausgezeichnetem Zustande, und da ich neben meinem eigenen auch noch Cases Pickel benützte, ging es, ohne Handgriffe schlagen zu müssen, rasch in die Höhe. Erst nachdem volle 25 m Seil ausgelaufen waren, konnte ich genügend sicheren Stand fassen, um die Untenstehenden nachkommen zu lassen. (…) Die Laternen wurden gelöscht, und dann ging es wieder möglichst schnell im Eilschritt weiter. Offenbar lag die schwächste Stelle dieser nächsten Stufe ungefähr in der Mitte des Eisbruchs. Dort war die Wand am wenigsten Steil, obwohl immer noch sehr hoch. Ohne Stufen zu schlagen, ging die Durchquerung der Terrasse schräg nach rechts hinauf glatt vor sich. Am Fuß der eisigen Steilwand angelangt, kam uns diese beinahe senkrecht vor. Doch anders blieb nichts übrig als hier hinauf, denn die Zeit fehlte, um nach einem besseren Durchgang, an dessen Existenz wir übrigens zweifelten, zu suchen. Nach unten lief die Wand in weichen Schnee aus. Das mit möglichst kleinen Stufen verbundene Risiko des Ausgleitens aus der Wand durfte also schon gewagt werden. Ich begnügte mich daher mit Stufen, in denen oft nur eine Spitze oder höchstens zwei Steigeisenspitzen eingreifen konnten. Neben schnellerem Fortkommen hatte dies auch noch den Vorteil, daß ich manchmal Stufen mit beiden Armen schlagen konnte. Die durchschnittliche Neigung war nämlich so groß (oft um 70º herum), daß der Körper durch Stehen in tiefen Stufen viel mehr an die Wand herangedrängt worden wäre, so daß Handgriffe nicht nur stellenweise, sondern durchweg notwendig gewesen wären, um das Gleichgewicht beizubehalten. (…) Nachdem eine Höhe von 25 m nach mühsamer Arbeit erledigt war, gewann ich ein ganz schmales Band, auf dem sich jedoch Platz genug bot, daß ich mich umdrehen konnte. Die Untenstehenden kletterten dann schnell zu meinem Standpunkt hinauf. Darauf fing die Hackerei von neuem an. Jetzt hätte ich, im Falle eines Ausgleitens, alle meine Kameraden mit in die Tiefe gerissen. Deswegen schlug ich tiefere und bessere Stufen. Max nannte sie ‘Suppenschüsseln’; Obexer meinte, ein Elephant hätte in solchen Aushöhlungen herumtanzen können. Beim Hacken war immer nur eine Hand frei; mit der anderen mußte man sich gut an die Wand anklammern, um ja nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nach weiteren zehn Metern nahm die Neigung beträchtlich ab, und wieder konnte ich, mit beiden Armen hackend, rasch vorwärtskommen. Zuletzt wuchs die Steilheit noch einmal. Die letzten paar Meter waren fast vollkommen senkrecht und wurden erst nach anstrengendster Arbeit überwunden. (…) Erledigt war der Bruch immerhin noch nicht. Über uns reckte sich immer noch eine steile Eiswand in die Höhe. Doch das Firnband, auf dem wir standen, führte als leicht zu begehender, wenn auch äußerst exponierter Pfad gegen das Marinellicouloir zu, um sich erst in dessen steilen Hängen zu verlieren. Am Rande des Couloirs angekommen, konnten wir uns wieder aufwärts wenden und gewannen über einen kurzen Hang, um 5 Uhr 50 Minuten, die dritte, kaum 35º geneigte Terrasse, die zum obersten Bergschrund [fr. rimaye, Randspalte, Randkluft; im engl. Original schrund und bergschrund] hinaufreicht. Ohne zu rasten, stiegen wir im Laufschritt über den hartgefrorenen Firn schräg nach links empor. Die Sonne löste schon Steine von den Felsen des Grenzgipfels los. (…) Den vorbeisurrenden Steinen wichen wir so gut wie möglich aus; doch das Glück spielte dabei die größte Rolle. Fast direkt unterhalb des Grenzsattels erreichten wir kurz nach 6 Uhr den Bergschrund [Randspalte] dort, wo eine gute Brücke einen leichten Übergang ermöglichte. (…) (Nun hackten wir) über den letzten Eishang (…) gegen die Felsen des Grenzgipfels zu. Zuerst war das Eis mit gutem Firn bedeckt, aber höher oben kam grünes Eis öfters zum Vorschein. Doch wir kamen rasch vorwärts. Die Neigung dieses letzten Hanges ist kaum 50º. Nur ein von der Sonne losgelöster Stein fiel in unserer Nähe beim Überwinden dieses Hanges. Um 6 Uhr 50 Minuten umklammerten meine Finger die ersten Felsen. Wenige Sekunden später saßen wir vereint auf dem fast horizontalen Boden einer Felsnische und lachten die Lawinen aus, die vom Silbersattel und Nordend ins Marinellicouloir hineinfegten.“ (Finch 1919)

 

Es gibt hier kein Sitzenbleiben, keine Position, die ein Weiteres aufhellend zu skizzieren vermöchte. Der mögliche Vollzug einer Anstrengung ist logisch noch nicht die erfüllte Bedingung der Möglichkeit der Wirklichkeit eines thematischen Objekts; und im gleichen Zug hat man, historisch, strengen Blickes zu sehen, wie die Anstrengung heute, identisch weder mit dem Begriff des Stresses noch mit dem des unterwürfigen Fleißes, aus der lebendigen Gesellschaft abgedrängt wird. Je reiner der Anstrengung Wirklichkeit, um so gähnender der Rand des Abgrunds, die Verfehlung des Themas.

Es muß daher in diesem Moment, auch wenn es um nichts als ihre Rettung geht, vom isolierten Standpunkt der Anstrengung bereits wieder abgegleitet werden. Für die empirische Wirklichkeit des Wallis unternimmt dies, nun monströs in langsamen Schwüngen das Sturztempo abwehrend statt aufwärts eilend im Laufschritt, Sylvain Saudan aus Combarigny zwischen Martigny und dem Col de la Forclaz, einem Platz im Untertanengebiet der sieben Zehnden – selbst nie aber ein Verschlafener:

 

„Es war halb eins geworden, und es war sehr heiß [10. Juni 1969]. Ich hatte natürlich weder eine Sonnencreme noch etwas zu trinken. Und ebensowenig hatte ich etwas zu essen oder ein Seil. So schlecht ausgerüstet war ich noch nie in den Bergen gewesen.

Marinellicouloir
Studienversion

Eine riesige Wächte versperrte mir den Blick auf den Eingang des Marinelli-Couloirs, aber ich mußte unbedingt etwas sehen! Ich mußte vor allem die ersten Meter sehen, um mir ein Bild von dem Zustand des Couloirs machen zu können. Ohne einen Begleiter, der mich mit einem Seil sicherte, wagte ich es jedoch nicht, mich dem Rand der Wächte zu nähern, denn sie konnte mit einem Schlag abstürzen.

(…) Mit meinen Skischuhen und natürlich ohne Steigeisen begann ich, den Nordgrat der Dufourspitze hinaufzuklettern. Nach etwa fünfzig Metern war ich hoch genug, um das obere Ende des Couloirs zu sehen.

Ich kletterte jedoch noch ein paar Meter weiter, denn ich wollte die günstigste Stelle für den Beginn der Abfahrt ausfindig machen. Sehr schwierig war der Anfang auf alle Fälle, das sah ich gleich: die ersten fünfzig Meter waren nichts als nacktes Eis.

Ich wollte daher noch mehr Einzelheiten sehen. Ich stieg wieder zum Sattel hinunter und ein Stück auf den Südgrat des Nordend hinaus. Dort suchte ich mir eine Stelle, die mir geeignet erschien, durchstach mit einem meiner Skistöcke vorsichtig die Wächte und machte mir eine Art Fenster, über das ich mich beugte.

Ich konnte feststellen, daß das Problem des Starts lösbar war. (…)

Ich rechnete und traf meine Entscheidung. Ich schnallte meine Skier an.

Die Öffnung, die ich in die Wächte gemacht hatte, bot mir einen Zugang zum Couloir. Ich war ziemlich müde nach den Strapazen des Vormittags. Außerdem hielt ich mir die Gefahren dieses Unternehmens vor Augen: Ich war allein, ich hatte keine Verbindung mit meinen Kameraden, das Funkgerät war auf dem (Theodulpass) zurückgeblieben. Sobald ich mich im Couloir befand, war mir der Rückweg abgeschnitten. Ohne Steigeisen und Pickel konnte ich niemals den vereisten Hang hinaufsteigen. Ich hatte nicht einmal ein Messer bei mir …

Und plötzlich fühlte ich mich sehr klein.

Es war ungefähr halb vier, als ich mich in Bewegung setzte. Der Durchstieg durch die Wächte machte mir keine Schwierigkeiten. Die ersten Meter, vor denen ich mich gefürchtet hatte, waren leichter, als ich gedacht hatte. Vier bis fünf Zentimeter Schnee bedeckten das Eis. Das war wenig, aber dieser von der Sonne aufgeweichte Schnee bot meinen Skiern genügend Halt. Nun aber schnell, bevor diese Angst unerträglich wurde… schnell ein erster Schwung, ein zweiter und gleich noch einige hinterher…

Als ich die Eisplatte erreichte, die ich vom Grat des Nordend aus erspäht hatte, hielt ich an. In labilem Gleichgewicht auf meinen Kanten hockend, suchte ich einen Weg, indem ich das Eis mit den Spitzen meiner Stöcke abtastete. Ich schaffte es und erreichte, ein wenig Höhe verlierend, eine kleine Schneehaube genau unterhalb der Dufourspitze. Der Schnee war gut, und ich konnte einige Schwünge machen.

So gelangte ich zum eigentlichen Eingang des Couloirs, denn bis dahin war ich nur durch eine Art Trichter unterhalb des Sattels gefahren. Von diesem Punkt an wude der Hang steiler. Eine zusätzliche Gefahr: er war Lawinen ausgesetzt. Ununterbrochen hallte ihr Donner durch das ganze Monte-Rosa-Massiv. Wer konnte sagen, ob nicht eine von ihnen das Marinelli-Couloir hinunterfegte?

Ich vertraute auf meinen guten Stern und fuhr mutig los. Nach etwa zwanzig Schwüngen stieß ich auf verharschten, vom Wind aufgeworfenen Schnee auf einer Strecke von vier- bis fünfhundert Metern. Ein schwieriger Abschnitt, den ich überwand, indem ich mich zuerst an den rechten Rand des Couloirs und dann in der Mitte hielt.

Seit den ersten Schwüngen unter der Wächte fühlte ich mich im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Ich hatte eine Wut auf dieses Couloir, ich betrachtete es als einen persönlichen Feind. Und ich war mir meines Erfolges beinahe schon sicher.

Auf dem Kamm zu meiner Linken sah ich die Marinelli-Hütte. Sie verschwand fast ganz unter dem verschneiten Dach. Doch ich hatte keine Zeit, die Landschaft zu betrachten. Ich brauchte meine ganze Aufmerksamkeit, um die nacheinander auftretenden technischen Probleme zu lösen.

Ich reihte einen Schwung an den andern und bemühte mich, nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Fünfzehn Schwünge, ein kurzer Halt, und immer so weiter… Ich hatte nur einen Gedanken: Am Fuß des Couloirs ankommen, bevor eine Lawine abgeht. Je weiter hinunter ich kam, desto flacher wurde der Hang, aber die Gefahr war deshalb nicht geringer. Auf allen Seiten hörte ich Lawinen. Sie hatten seit dem Start die Begleitmusik zu dem Knirschen meiner Skier im Schnee geliefert.

Als ich mich dem unteren Teil des Couloirs näherte, wurde mir klar, daß es als Sammelrinne für alles diente, was auf der Ostseite des Berges herunterstürzte. Überall um mich her sah ich die Reste liegen, und ich spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, das Couloir zu verlassen. Mit Skiern an den Füßen wäre das jedoch nicht leicht gegangen, und außerdem hatte ich mir doch vorgenommen, das Marnelli-Couloir in seiner ganzen Länge abzufahren. Ich durfte auf keinen Fall kneifen.

(…)

Jetzt spürte ich die Müdigkeit schmerzhaft in der Hüfte, in den Schenkeln, den Waden. (…)

Jedesmal, wenn ich einen Augenblick hielt, um Atem zu schöpfen, drehte ich mich um. Und jedesmal sah ich dieses riesige Couloir über mir, jedesmal hatte ich den Eindruck, daß ich bald unten angekommen sein müsse. (…)

Dann erreichte ich endlich den Belvédère-Gletscher.

Ich muß alles in allem zweitausenddreihundert bis zweitausendvierhundert Schwünge gemacht haben.“ (Dreyfus 1970, 144ff)

 

Die anderen oberirdischen Zugänge ins Wallis erscheinen gewöhnlich um einiges milder. Es sind indes heute deswegen erstaunlich viele zu notieren, weil es zur Moderne gehörte, weder ein Terrain in Ruhe zu lassen, unbetreten, noch ihm eine Namengebung zu ersparen. Diese neuen Übergänge lassen sich nur mittels moderner technischer Materialien und in Kletterei des näheren besichtigen (Biner 1994). Als Forschungsgebiete der Geologie und Glaziologie verbleiben sie außerhalb des Programms der Gletschersoziologie.

 

Name Höhe Verbindung Kommentar
Silbersattel 4515 m Sylvain Saudans Weg Klettertour
Jägerjoch 3913 m Klettertour
Fillarjoch 3586 m Klettertour
Altes Weißtor 3560 m Klettertour

Neues Weißtor

3639 m

Macugnaga – Zermatt

1, 2, 3

Monte Moropaß 2868 m Macugnaga – Saas Almagell 3, 4, 5
Mondellipaß 2832 m Mondelli – Saas Almagell 1, 6
Ofentalpaß 2835 m Antronapiana – Saas Almagell 6
Antronapaß 2838 m Antronapiana – Saas Almagell 4
Sonnigpaß 3147 m Klettertour
Passo d’Andolla 2418 m 1, 7, 8
Passo del Büsin 2487 m 1, 7, 8
Passo di Pontimia 2378 m 1, 7, 8
Passo di Vallaro 2488 m 1, 7, 8
Gattascosa 2158 m 1, 7, 8
Passo di Monscera 2200 m 1, 7, 8
Gondo   800 m Varzo – Simplon Straße, 5, 9, 10
Alpjenrung 2068 m Varzo – Simplon 1, 5, 9, 12
Passo Carnera 2778 m 1, 7
Chaltwasserpaß 2770 m Varzo – Simplon 1, 7
Furggubäumlicke 2686 m Klettertour

Ritterpaß

2764 m

Varzo – Binn

5

Chriegalppaß 2508 m 1
Gischijoch 2923 m Klettertour
Passo del Laghi 2725 m Klettertour
Geisspfad 2474 m Goglio – Binn 1, 6
Grampielpaß 2553 m Goglio – Binn 1, 6
Passo di Valdeserta 2664 m Klettertour
Albrunpaß 2409 m Goglio – Binn 1, 6
Hohsandjoch 2901 m Klettertour
Griespaß 2479 m Formazza – Ulrichen 1, 4, 6
Passo del Corno 2485 m Airolo – Ulrichen 1
Nufenenpaß 2478 m Airolo – Ulrichen Straße, 10
Gerenpaß 2701 m Klettertour
Passo di Rotondo 2764 m Klettertour
Witenwasserenpaß 2819 m Klettertour
Muttenlücke 2846 m Klettertour
Furkapaß 2431 m Realp – Oberwald / Goethes Ausgang Straße, 13
Grimselpaß 2165 m Guttannen – Oberwald Straße, 10
Triebtenseelicke 2639 m 1
Oberaarjoch 3223 m Klettertour
Unteres Studerjoch 3434 m Klettertour
Oberes Studerjoch 3416 m Klettertour
Hugisattel 4088 m Klettertour
Agassizjoch 3749 m Klettertour
Unteres Mönchsjoch 3529 m Klettertour, 14
Jungfraujoch 3475 m Bahnstation
Rottalsattel 3885 m Klettertour

Louwitor

3676 m

Klettertour

Gletscherjoch 3769 m Klettertour
Äbeni Fluejoch 3699 m Klettertour
Mittagjoch 3657 m Klettertour
Großjoch 3564 m Klettertour
Schmadrijoch 3337 m Klettertour
Wetterlücke 3181 m Klettertour
Rote Tätsch 3150 m Klettertour
Märbiglücke 2945 m Klettertour
Lötschenpaß 2690 m Kandersteg – Ferden 6, 11
Gemmi 2314 m Kandersteg – Leukerbad 6, 11, 15
Lämmerenjoch 3125 m Klettertour
Rawilpaß 2429 m Lenk – Sion 6, 11
Schnidejoch 2800 m Klettertour
Col du Brochet 2759 m Klettertour
Sanetsch 2002 m Gsteig – Sion 6, 11
Col de Tsanfleuron 2839 m Klettertour
Pas de Cheville 2038 m Gebrüder Bridels Weg 1, 6
Frête de Saille 2589 m 1, (Klettertour)
Dents de Morcles 2968 m 16
St-Maurice 422 m Haupttor Straße / Bahn
Bouveret 386 m Genf – Port Valais Seehafen, 17
St-Gingolph 386 m Seehafen, 5
Cornettes de Bise 2432 m Savoyen*, 5, 18
Col de Verne 1814 m Savoyen, 5
Col de Savalène 1867 m Savoyen
Col d’Outanne 1857 m Savoyen
Col de Conche 1789 m Savoyen
Col de Recon 1735 m Savoyen
Col de Chétillon 1873 m Savoyen
Col du Croix 1803 m Savoyen, 5
Pas de Morgins 1369 m Savoyen, 18
Pas de Fecon 1826 m Savoyen
Col de Chésery 1995 m Savoyen, 5, 18
Col de Cou 1921 m Savoyen, 5, 18
Col de Bretolet 1923 m Savoyen
Col de la Golèse 2639 m Savoyen, 18
Col du Sageron 2395 m Savoyen, 18

Col des Ottans

2496 m

Savoyen, 18

Col du Ruan 2799 m Savoyen, 18
Col de Tenneverge 2484 m Savoyen, 18
Col du Grenairon 2685 m Savoyen, 18
Col du Vieux 2569 m Savoyen, 18
Col des Corbeaux 2603 m Savoyen, 18
Col de la Terrasse 2645 m Savoyen, 5, 18
Breche de Perrons 2495 m Savoyen, 18
Le Châtelard 1094 m Bahnstation, 18
Col de Balme 2204 m Goethes Eintritt Savoyen, 5, 18
Col des Grands 3075 m Haute Route, 19
Col du Tour 3281 m Haute Route, 19
Fenêtre du Tour 3335 m Haute Route, 19
Col du Chardonnet 3323 m Haute Route, 19
Col du Tour Noir 3534 m Haute Route, 19
Col d’Argentière 3552 m Haute Route, 19
Pt Col Ferret 2490 m Savoyen, 18
Gd Col Ferret 2538 m Savoyen, 18
Col du Ban Darray 2695 m Savoyen, 18
Col des Angroniettes 2963 m Savoyen, 18

Col du Fourchon

2698 m

Savoyen, 18

Fenêtre de Ferret 2698 m Savoyen, 5, 18
Col du Gd St Bernard 2458 m Aosta – Martigny Straße, 5, 12
Col du Barrasson 2681 m Savoyen, 18
Col du Menouve 2759 m Savoyen, 18
Col de Moline 2907 m Savoyen, 18
Col d’Annibal 2992 m Savoyen, 18
Col des Chamois 3259 m Savoyen, 18
Col de Valsorey 3106 m Savoyen, 18
Col d’Amiante 3308 m Haute Route, 19
Col de By 3189 m Haute Route, 19
Fenêtre de Durand 2797 m Haute Route, 19
Col de Crête Sèche 2898 m Haute Route, 19
Col du Chardoney 3185 m Haute Route, 19
Col d’Otemma 3209 m Haute Route, 19
Col d’Oren 3262 m Haute Route, 19
Col de l’Evêque 3392 m Haute Route, 19
Col de Collon 3117 m Valpelline – Arolla 1, 6
Col de Tsa de Tsan 3243 m Haute Route, 19

Col du Mont Brulé

3213 m

Haute Route, 19

Col des Bouquetins 3360 m Haute Route, 19
Col de Valpelline 3568 m Haute Route, 19
Tiefmattenjoch 3567 m Haute Route, 19
Col de Tourmanche 3559 m Haute Route, 19
Furggjoch 3273 m Breuil – Zermatt 1
Furggsattel 3351 m Klettertour
Theodulpaß 3317 m Breuil – Zermatt 1, 6, 12, 20
Breithornpaß 3824 m Klettertour
Schwarztor 3731 m Klettertour
Zwillingsjoch 3845 m Klettertour
Felikjoch 4093 m Klettertour
Lisjoch 4151 m Klettertour
Seserjoch 4296 m Klettertour
Gnifetti 4452 m Klettertour

Grenzsattel

4452 m

Finchs Weg

Klettertour

 

Grenzbegehung Wallis 2002: www.aretevalaisanne.ch

 

*[Die Bedeutung des savoyardischen Teils des Wallis liegt im geschichtlichen Erfahrungsgehalt vom nichtmetaphysischen Moment der Kategorie des Kampfes. Bei Hegel sind der Kampf um Leben und Tod und die Dialektik der Anerkennung soweit ineins gesetzt, daß der Kampf überhaupt metaphysisch als Notwendigkeit erscheint. Vernunft setzt voraus und als Ziel Selbstbehauptung und gesellschaftliche Hierarchie. Der Respekt vor dem militärhistorischen Gehalt des Untertanengebietes vom Großen St. Bernhard bis St-Gingolph, das ganz einfach zu verlockend gelegen ist, als daß die Savoyardischen Herrscher nicht darauf hätten versessen gewesen sein müssen, verschafft ein Recht auf Einsicht in die historisch obsolet gewordene Grundbereitschaft zum Verteidigungskampf und ermöglicht, weit wichtiger, eine präzisere wechselseitige Abtastung der Begriffe Kampf, Anstrengung und Anerkennung; der erste läßt sich dann radikal vergessen machen, ohne daß der mittlere aufgeweicht und die Kritik des letzteren, äußerst schwierig, außer Kraft gesetzt werden müßte.

Der eindrücklichste Aussichtspunkt fürs Chablais, den savoyardischen Abschluß der Walliser Landschaft, ist La Rionda oberhalb Leysin. In einem äußerst breiten Panorama sieht man sich der Nordwestgrenze gegenüber, der Wand von Les Diablerets bis zu den Dents de Morcles, wo sich der Keil von St-Maurice öffnet und zum Grat der Dent du Midi wieder aufschwingt; von hier bis nach St-Gingolph am Genfersee, von dem man ein großes Stück sieht und an den der letzte Ort des Wallis wie ein strahlendes Tessinerdorf angewachsen ist, zeigen sich die Berge gänzlich anti-, d. h. voralpinisch nicht unähnlich dem Berner Oberländischen Frutigtal. Daß der Auslauf eines umgrenzten Gebietes wie eine Coda ins Atypische umkippt, kennt man aus der Geschichte der Musik; überraschend aber ist, wie in der Mitte der nordwestlichen Grenzwand über dem Pas de Cheville eines der Hauptstücke, um nicht zu sagen die Krone des Wallis, sich von der glänzendsten Seite zeigt, der ganze Grat des Weisshorns vom Bishorn bis Schalihorn über die Schulter hinweg bis zum Zinalrothorn. Es verbindet sich hier das Wahrzeichen des katholischen Val dAnniviers mit der offenen Landschaft des protestantischen Val d‘Ormont (Preiswerk 1983, Crettaz 1982).]

 

Die aktive Grenzziehung bewahrt davor, über das Thema in einer Sprache zu sprechen – und sei sie die der Bilder – die auch eine andere als die des Objekts wäre. Nur wenn der Intention nach alles offen bleibt und keine Daten als Grundlage dubios vorgeschoben werden, kann das versteinerte Bild der Landschaft Wallis aufgebrochen werden – eine verschrobene Ideologie, wie sie sich immer einstellt, wo ein Gebilde in einigermaßen lesbaren Konturen sich in Raum oder Zeit vom Subjekt entfernt, wie das Exotische und das unvordenklich Alte.


[1] Man soll nicht überstürzt spurten am Rand und gleich die volle Rede sprechen lassen – nicht fahrlässig sich sputen, wenn einen der Abgrund nicht unziemlich ausspucken soll. Aber es bedarf der sofortigen Absicherung, daß das Wort Positivismus einem wissenschaftshistorischen Kontext entstammt, in dem es hier belassen wird. Der Positivismus bleibt dadurch ein Problem, das zwar gealtert und überlebt anmutet, in seinem Übergang in die Konzepte des Rational Choice, des Pragmatismus und einzelner Variationen der Diskurstheorie nichts an Brisanz verloren hat, nichts an Gefährlichkeit im bösen Willen des Niederwerfens.

 

[2] „(Die) Marinelli-Rinne, die sich von oben bis unten durch die Wand zieht, erinnert an die Tragödie des Jahres 1881, als hier Damiano Marinelli und die Bergführer Pedranzini und Imseng von einer Lawine erfaßt und getötet wurden. Bei Imseng handelte es sich um den berühmten Bergführer, dem neun Jahre zuvor die Erstbesteigung der Wand gelungen war.“ (Camisasca/Garimoldi 1996, Bild 21)

 

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