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Analysefragment

 

Trotz der Inanspruchnahme aller möglichen Tricks, die dem Analyseobjekt Wallis erkenntnistheoretisches Recht widerfahren lassen sollen, indem sie subjektivistische Thematiken wie die nach ereignisgeschichtlichen Daten, historischen Leistungen einzelner Personen, Strukturbeschaffenheiten für den Tourismus, für die Folklore, für die Wirtschaft etc. umgehbar machen, erscheint im ganzen das, was zu erkennen wäre, reichlich dürftig, beinahe nicht der Rede wert beziehungsweise, am Ende des Sprechens, nicht mehr der Rede wert. Es scheint, das Erkennen einer Gesellschaft könne sich nicht mit dem Aufweis strukturaler Konfigurationen begnügen, sondern bedürfe eminent der Geschichte der kritischen Auseinandersetzung mit Phänomenen, die der Not der Natur und Ökonomie wie immer heute komisch als geistig zu charakterisierende entgegenstehen – eine Auseinandersetzung, die aber gerade wegen der brennenden Not, der Abwesenheit mäzenatischer Aristokratenfamilien und der Absorption durch ein strenges System des Kirchenglaubens gar nie möglich wurde. [1]

Und doch birgt die Landschaft, wenn geschichtsphilosophisch das Geistige nur ausreichend geduldig transformiert wird, in ihrer ästhetischen Erscheinungsweise als Formation der Natur ein Genuß- und Erkenntnispotential, das abzuschöpfen dem einzelnen viel Zeit des Erlebens und der Erfahrung noch abverlangen wird. Es ist dies die Konstruktion eines Erkenntnisobjekts, die nicht durch einen äußerlichen Plan, durch ein Programm oder ein Projekt zu erreichen wäre, sondern eine gewisse zeitliche Kontinuität in der Erfahrung des spezifischen Wahrnehmens voraussetzt, eines Wahrnehmens, das wie eine Gabe des Lebens zu einem Augenaufschlag zu führen vermag, dessen Geschehen dem Subjekt zwar nie selbst bewußt ist, es aber doch als Erwachen und wie ein Erwachen in ein rätselhaftes Staunen geleitet, welches allein in der Möglichkeit der Reproduktion schon den Grund hat, Momente diskursiver, verbindlicher Erkenntnis herzustellen. Erst dann, wenn das Subjekt schon viel Anstrengung vollzogen hat, intentionslose im einzelnen, ist es, wie wenn die Natur erlösend die Augen aufschlagen würde und ihrerseits selbst zu sprechen begänne: das bin ich. Paradox zeigt sich in diesem freien Sprechen allerdings, daß die Landschaft immer als Schöne spricht und gewisse Materialitäten, nach denen das Wissen sonst strebsam forschte, am mitsprechen hindert. Es kann zwar die Schöne in ihrer Erscheinung und in ihrem Sprechen wahrgenommen werden – doch was sie wirklich zu sagen hätte bleibt abgründig, unergründlich, ja abschüssig am meisten in den Momenten, wo das Greifen nach ihr dem Ziel am nächsten zu kommen scheint.

Wegen des fixen Kontinuums im schönen Reiz durchzieht den Aufenthalt in der Natur als einem komplexen Gebilde die Unmöglichkeit, einzelne Wahrnehmungen mit dem Wahrgenommenen in eine gewissenhafte Übereinstimmung zu bringen. Doch ganz im Gegensatz zur Schönheit der Frau beläßt der Reiz der Natur die tätige Vernunft in ihrer Gemächlichkeit, und in dieser selbstgenügsamen Verfassung spielt sie unverfroren mit den Einzelmomenten, als ob es ihr um Erkenntnis ginge. Jenen wird so begegnet, daß ihr Materielles nicht in einem unendlich unterteilbaren Raum erscheint, sondern immer schon in der Zeit – als Materialitäten der Geschichte, die sich weniger in ihrer Vereinzelung als mehr in komplexen Struktureinheiten zu entwickeln trachten.

Zum Modell solcher Erscheinungsweise von Schönheit, von dem her erst nachvollziehbar wird, was die Vernunft in der schönen Natur sucht, untersucht, anerbietet sich die Kunst, namentlich die Musik. Sie zeigt sich in materiellen Einzelgebilden, die nicht hauptsächlich als spektakuläre Einzelereignisse faszinieren sondern durch eine gewisse Kohärenz im Material, das gesellschaftlich-geschichtlich sich wandelt und das darin sein Wesentliches hat, mehrere Einzelwerke, gar die einer ganzen Epoche, in einer mehr oder weniger offenen Gesamtstruktur zu strukturieren.

In der Tat öffnet sich ein wundersamer Horizont, wenn der Strukturierung der Struktur der Walliser Landschaft, die als Natur man sich gewöhnlicherweise chaotisch, also keinem Schematismus unterworfen vorstellt, heute begegnet wird wie der Strukturierung der Struktur in der seriellen Musik, die im Akt des Hörens, im akuten Akt der Wahrnehmung nicht zu entschlüsseln ist, gewissermaßen also chaotisch erscheint, obwohl nichts in ihr so wichtig ist wie der künstlerisch geschaffene Zusammenhang, das Konstruieren neu zu entdeckender musikalischer Welten.

Was aber ist vom Modell der seriellen Musik zu kennen, das als Leitfaden dient, die Walliser Landschaft ästhetisch zu entziffern? Wo immer der Musik mit Ernst begegnet werden kann, sind zwei Tendenzen gleichwertig eingelagert, a) die des objektiven Materials und b) die der subjektiven, diskursiven und normativen Ästhetik. Im geringsten kann von musikalischem Material gesprochen werden, wenn ein System der verwendeten Töne in Stimmungen oder rhythmischen Anordnungen beschreibbar ist (dies betrifft viele Musiken nichteuropäischer Kulturen), von Ästhetik, wenn die Grenzen des musikalisch Denkbaren und Möglichen in irgendeiner Form innerhalb der fraglichen Kultur thematisiert werden. Das Zusammentreffen sowohl 1. des Dranges zur Schriftlichkeit, der auch den Akt des Schöpfens von Musik, das Komponieren durchzieht, 2. einer komplizierten, wechselvollen Ästhetik von Geboten (daß die Melodien den Texten folgen sollen u. a.) und Verboten (insbesondere bis Anfang 17. Jahrhundert von individuellen Subjektivitäten beziehungsweise Affekten), 3. der vorzüglichen Aufführung der Musik in homogenen und distinkten Gruppen sowie 4. der Beschränkung auf eher wenige Tonreihen machte es in Europa möglich, daß die Musik nicht bloß sich peu à peu in schöner Beliebigkeit entfaltete, sondern quasi mit einer Logik geschichtlich entwickelte, um im temperierten Tonraum, der auf zwei beinahe unabhängigen Spuren materiell für die Praxis der musikalischen Reproduktion und ideell für die Herstellung komplexer Kompositionen schon seit längerem angestrebt war, eine Art innerer Bestimmung zu erlangen. Die Epoche der tonalen klassischen und romantischen Musik, die eine immense Fülle komplexer, deutbarer Einzelwerke entstehen ließ, zerfällt dann in den genannten beiden Tendenzen alsbald gleichermaßen: auf dem Feld der Ästhetik wird allerspätestens nach dem Zweiten Weltkrieg eklatant, daß der souveräne subjektive Wille nur als gesellschaftlich produzierter zu verstehen ist, also in seiner Abhängigkeit von einer Gesamtkultur, die den Faschismus wenn nicht förderte so doch nicht rechtzeitig verwehrte – wird eklatant, daß eine Musik folglich nicht mehr weiter kompositorisch ins Werk zu setzen ist, die im Akt der Schöpfung alles von der Willkür des künstlerischen Subjekts abhängig macht; auf dem Feld des Materials steigern sich durch die gegebenen Möglichkeiten die Spannungen so weit ins Unermessliche und Unentscheidbare – idealtypisch bereits im Tristanakkord – daß von alleine das Festhalten an der hierarchisierenden Ordnung der Tonalität obsolet erscheint. Die Idee der seriellen Musik ist nun nichts anderes als die Anstrengung der musikalischen Kunst, diese historischen Begebenheiten ernst zu nehmen, ohne die Musik selbst dadurch zu verraten, daß ihr unverbindlich begegnet würde. Wie die Grafik Musik 2000 ausführlich nahelegt, indem sie den Oberbegriff des Seriellen bis fast in sein Widersprüchliches aufspaltet, können die Gebilde, die nun entstehen, in einer strengen Determiniertheit verfaßt werden oder in beliebiger Weise freie Elemente mit enthalten: was ihnen gemeinsam ist, besteht im Ausschließen metaphysikanfälliger Momente wie der dialektischen Identität, die das Widersprechende zwanghaft unter eine verklärende Einheit setzt, der Wiederholung als dem Motor der Dialektik, dem Thematismus, der nur blufft mit der Meinung, der Sinn der Musik erschöpfe sich im Erfinden schöner Melodien etc. Vielleicht läßt sich die Idee der seriellen Musik sogar alleine von der Kategorie der Wiederholung her beleuchten, der sie mittels zweier kompositorischer Verfahren, der Verdoppelung und der Spiegelung, den Rücken kehrt. Verdoppelung und Spiegelung funktionieren in der seriellen Musik deutlich anders als die Kategorie der Wiederholung, die dialektisch zu Identitäten führt: zu distinkten Themen statt thematischen Materialien, zu funktionalen tänzerisch-körperlichen anstelle von komplexen und überraschenden Rhythmen, zu ökonomisch-zufälligen harmonischen statt dynamischen Klängen.

Und genau so ist der Landschaft analytisch zu begegnen, als ob es darum ginge, die kompositorischen Elemente, wie sie von der seriellen Musik her bekannt sind, in ihr wiederzuerkennen. Da es keine Punkte gibt, Gesichtspunkte, von denen aus die ganze Struktur analysierbar wäre, besteht im „Analysieren“ eine Nötigung zum Fragment. Es ist die lange Erfahrung des Wanderns im Wallis, die zur Einsicht führt, daß die Landschaft niemals in einem Leben erfaßt werden könnte, weil ihr nebst den topologischen Vielfältigkeiten immer auch klimatisch-jahreszeitlich-meterologische und die davon abhängigen lichtmäßigen zukommen, die die Variationsmöglichkeiten ins Unendliche treiben, um in der durchgängigen Variation die Wiederholung von Identischem eben zu vermeiden. Wichtiger als der Vorgang der Deutung selbst, die den Charakter der täppischen Buchhaltung nie recht wird abstreifen können, ist das Bewußtsein über den Akt der Deutung. Denn der Einsatz der Begriffe, der erst Diskursivität herstellt, ist derart stark auf das Aufmerksame und die Totalität des Sinnlichen in der Wahrnehmung angewiesen, daß die Loslösung von ihr als dem Zweck der Diskursivität nur als Krücke gelingt, strenger der Not geschuldet als der angenehm dienliche Wanderstock. Das Zusammenstellen von Momenten der Analyse, das einzig darum geschieht, weil etwas erkannt werden soll, weil in ein reales Geschehnis das Recht auf Einsicht bereitgestellt werden soll, muß dann eben bitter streng unter diesem Defizit gesehen werden: daß das Abbild nur mit großer Verzerrung die reale Erfahrung ersetzt, weil der Raum, in dem die Wanderung vor sich geht, die zu den Entdeckungen führt, in der Reproduktion nicht mit enthalten ist. Das Normative im Diskurs über die Landschaft besteht dann weniger darin, sie so zu sehen wie sie abgebildet und in der Anordnung der Abbildungen zusammengestellt wird, sondern in der Aufforderung, die Bilder der Landschaft in der Landschaft wahrnehmen zu gehen. [2]

Dennoch läßt sich mit Trivialitäten anfangen, das Werk der Walliser Landschaft „deutend“ zur Sprache zu bringen. Denn drei Besonderheiten, die im Gesamtwerk wegen ihrer Exponiertheit und Schönheit für sich stehen wollen – als ausführliche Zwischenspiele im Gesamtgebilde – sind schon als Portraits vorgestellt worden: das Weisshorn, die Dent Blanche und das Bietschhorn. Zwei gleichwertige Gebilde fehlen noch, das Matterhorn, das aus finanziellen Gründen nicht in seiner Ganzheit gezeigt werden kann (was hier keinen Abbruch tut, da seine Bilder längst im Schweizer Bewußtsein wie auch in dem von solchen, die an Ferien in der Schweiz Interesse zeigen, fest verankert sind) und die schöne Mischabel, deren Hauptspitzen Dom und Täschhorn zwar auch von Westen bewundert werden können (von der Bella Tola, dem Meidpass, dem Touno und von der Brinta), deren Gesamtbild aber für den braven, nicht waghalsigen Fußgänger nur von zwei Seiten her glänzt, von Osten und von Norden (die Westseite wird vom Weisshorn überdeckt, auf das zu steigen …).

Mischabel: Täschhorn, Dom, Südlenz/Lenzspitze, Nadelhorn, Stecknadelhorn, Hohberg

 

 

 

 

Mischabel, Matterhorn, Weisshorn
Links Visperterminen, rechts Zeneggen, hinten Grächen

 

 

Dom links, dann Täschhorn

 

 

 

Sind diese Einzelgebilde erst mal richtig positioniert, im wandernden Bewußtsein der ganzen Landschaft, kann der Registrierung von Phänomenen in den Tälern und auf den Bergen freien Lauf gelassen werden, die auf irgendeine Weise sich aufeinander beziehen lassen.

 

Gamsaschlucht mit Nanztal, rechts Rohrberg

 

Die Gamsaschlucht, die vom Zug so gut einsehbar ist, kopiert die Saltinaschlucht und findet sich wieder, minimiert, im verdeckten Eingang zum Vispertal und in der ungeöffneten Turtigschlucht beziehungsweise Milibachschlucht Richtung Eischoll und Löübbach Richtung Unterbäch. Es fragt sich vielleicht, ob nicht alle Schluchten, die dieselben Felsen aufweisen, sich sowieso ähnlich sein müssen? – Sind alle tiefen Töne ähnlich? Nein. Die Schluchten sind erst dann da, wenn sie entdeckt werden; sie sind erst als perzipierte, wahrgenommene, erst dann, wenn man die Entsprechungen in der aufmerksamen, wahrnehmenden Wanderung herstellt.

Saltinaschlucht

 

 

 

Illhorn

 

Touno

Je bekannter die Aussichtsberge Illhorn und Touno sind, weil sie bestiegen werden, desto frappanter verblüfft, wie stark gleichförmig ihre Gestalten im Nordwesten erscheinen.

 

Ein heikler Aussichtspunkt ist das Eggerhorn. Beim Aufstieg von Ernen zeigt es schnell seine Spezialität, das Bietschhorn umfassend auszudeuten. Über Fiesch positioniert sich etwas aufgeblasen der Stockhorngrat, der scheinbar zurückhaltend sich Distelgrat nennen läßt; da er hier nicht zum Bietschhorn hinaufführen kann, ist dasselbe hinter ihn gerückt, als ob mit den Materialien fototechnisch Unfug getrieben würde. Die Formen gehen weit über den Charakter der Ähnlichkeit hinaus – sie sind sie als identische Kopien. Bald schon zeigt sich auch das Wiwannihorn, solange es jedenfalls mit Schnee gefüllt ist; auch dieses, das hier aufgetrennt ist in das Kleine und das Große Wannenhorn, steht in der Bildebene fahrlässig verschoben: das Bietschhorn also nun zuhinterst rechts als Finsteraarhorn, der Stockhorngrat zuvorderst links (aber ohne Krebs, folglich normal nach links verlaufend), das Wiwannihorn zwischen diesen beiden Ebenen. Sind einmal die Widerstände gegen fehlplazierte Schneeresten, vor denen ein korrekt Vernunftbegabter immer zurückweicht, gegen die Steilheit und die Abschüssigkeit, schließlich gegen die aufdringliche Unschlüssigkeit des Adlerauges überwunden, enthüllt das Eggerhorn so viele Bietschhörner, daß die Konzeption des Wallis als serielle, antimetaphysische Partitur, in welcher Erfahrungen gegen die Zwangshaftigkeit des Metaphysischen gesammelt werden könnte, in ihr Gegenteil zu kippen droht: Wenn neben dem Bietschhorn selbst noch das Nesthorn (als Abschluß des Gredetsch-tals), das Aletschhorn und das Finsteraarhorn als identische Strukturmomente wahrzunehmen sind und im Sparrhorn das Wiwannihorn wie auch in seinem namenlosen langen Fortsetzungsgrat zum Nesthorn noch der Stockhorngrat erscheint (plastischer allerdings von der Nordflanke des Folluhorns oberhalb Rosswald), ebenso wie schon erwähnt die Wannenhörner das Wiwanni imitieren und der Distelgrat den Stockhorngrat – dann ist der ganze Horizont derartig mit Materialien der Wiedererkennung vollgestopft, daß eher von einem minimalistischen Strukturgebilde gesprochen werden müßte als von einem seriell organisierten (und sei es nach identifizierbaren Formeln abgeglättet), das das hierarchische, metaphysische Ordnen von Wichtigem und Nebenläufigem, dessen Wesen immer nur darin bestanden hat, das Wichtige klarer hervortreten zu lassen, um das andere geringzuschätzen, praktisch-modellhaft zu kritisieren hätte. Es quält an diesem Ort die Frage, gegen die sich doch alles dasjenige richtet, welches Gesellschaftliches im Raum situieren und diesen Raum der Natur als ästhetisch verstehbar – diskursiv – begreifen will, ob man es hier noch mit der paradiesischen Vielfältigkeit des Wallis zu tun hat oder bloß doch nur mit dem etwas simplen Phänomen des Effekts einer einheitlichen geologischen Formation, in der geschichtsphilosophisch nichts zu erkennen wäre, weil alles in dem positivistisch zu registrierenden Umstand gründet, daß die Einheitlichkeit der Masse bei regelmäßigen Einwirkungen fraktal-identische Strukturgebilde freisetzt.

Gerade weil vom Eggerhorn so viel zu erkennen, wiederzuerkennen und zu identifizieren ist, täuscht dieser Aussichtspunkt über die Möglichkeiten der Erkenntnis in der Landschaft Wallis überhaupt.

Links Gersthorn, Mitte Bietschhorn (darunter Greich), rechts Nesthorn (darunter Riederalp), rechts unten Betten

 

Gänzlich falsch wäre der Schluß, das Bietschhorn sei eben eine derart gewöhnliche Ausbildung, daß es nicht zu umgehen ist, sie als Element der Wiederholung in der Landschaft vorzufinden. Seine Strukturierung könnte komplexer nicht sein. Steht man ihm von Süden gegenüber, sei es auf der March beim Augstbordhorn, sei es unten in Eischoll oder weiter westlich auf dem Ergischhorn – nie gelingt es, die ganze Skulptur in den Griff zu bekommen, weil seine Teile sich im Akt der Besonderung zu übertrumpfen bestreben. Sosehr man die Grate in der West-Ost-Perspektive als aufeinander bezogene Elemente zu identifizieren vermag, sosehr beharren die Tal- oder vielmehr Schluchtgebilde auf ihrer wundersamen Eigenständigkeit (nur die Abwärtskrümmung in den Mündungen, die vom Joli bis zum Gredetschi gleichermaßen unzugänglich sind, ist mit Abschwächung im letztgenannten Tal allen eigentümlich). Die Fülle der Ereignisse im Detail, die bald schon mit dem Chaos zu konkurrieren vermögen, läßt einen im Zweifel darüber, ob man es überhaupt mit einem einheitlichen Gebilde zu tun hat, wie das Bietschhorn in seinen Wiederholungen vom Eggerhorn dem Wandernden mit Penetranz doch erscheinen will.

 

Zusätze zur Bietschhornskulptur:

a) Im Bietschhorngebilde, den Sonnenhalden am Lötschberg, gibt es nicht nur strukturelle Korrespondenzen in Berg und Tal, sondern, recht abgelegen der gängigen Wanderwege, im mikroskopischen Analysebereich auf den Pfaden selbst: die unangenehmen Platten als oberste Endungen der Eschwände, die man von Prag zum Seilegge queren muß, erscheinen, teils angenehmer, teils noch heimtükischer, auf dem Nachbarsgrat im Grenzbereich des Bitzitorrus und dem sagenhaften, äußerst steil plazierten Dorf Arbol.

 

Auf dem Gersthorn über den Foggenhorngrat zum Aletschgletscher

 

b) Der Grat des Bitzitorru (= Trosiboden) schließt auf etwa 1000 Meter Länge eine 1000 Meter hohe Wand ab, in deren Mitte das Chännilwasser um die Wende 13. / 14. Jahrhundert geflossen haben soll (oder wo im mindesten die Anlagen zu bauen versucht wurden). Auf einem Viertel seiner Länge wird er durch einen Hag abgesichert, der in seiner Konstruktion an den wundersamen, einzigartigen Hag des Pas de lOurs bei Montana erinnert – dessen Alter aber, den Örtlichkeiten entsprechend als wie aus Zeiten des Chännilwassers erscheint.

Gersthorn

 

c) Ein kluges Hören der Landschaft auf der Schaflischmatte zwischen Rosswald und Folluhorn erfaßt deutlich, wie beim Bietschhorn es sich um nichts anderes handelt als um die aufgeblasene gespiegelte Gestalt des Gersthorns.

 

Triftjoch, Wellenkuppe, Obergabelhorn

 

Eine Besonderheit zeigt der Tsavolire, indem von hier die Westwände der drei Einzelmotive der Kette im Abschluß des Val d‘Anniviers identisch erscheinen, des Weisshorns, des Zinalrothorns und des Obergabelhorns (von hier aus zeigt sich klar, wie das Triftjoch, das der Sage nach als Übergang von Zermatt nach Zinal gedient haben soll, aus einer veritablen Kletterwand besteht).

 

Vom Meretschihorn her zeigen sich die Leuker Sonnenberge mit Guttet, Bratsch bis Jeizinen, vom Torrenthorn bis zum Niwen als Lightversion der Sonnenhalden am Lötschberg. Allerdings enthüllt sich diese wunderschöne Skulptur in ihrer vollen Pracht weder vom Illhorn noch vom Emshorn, sondern eitel einzig vom Meretschi, das hinwiederum nur auf einem Flagellantenweg sich verabschieden läßt: der Zugang von Chandolin via Illhorn und dem farbenverliebten Illsee ist vielversprechend, der Abstieg nach Agarn und Susten lang und langweilig, weil der dichte Wald kein einziges Mal einen Blick in die Landschaft erlaubt. [3]

 

Selbst der Illgraben, ansonsten doch ein schroffes einzelnes Mahnmal des Oberwallis, hat ein Pendant, zu sehen im Unterwallis Richtung Ost, L‘Ardève bei Leytron.

 

Man könnte noch sprechen vom Kleinen Matterhorn, das einerseits das große bewunderte imitiert, mit einer Wendung, andererseits im Pierre Avoi gespiegelt wird, der selbst aus den Fenstern der schnellen internationalen Züge des Rhonetales betrachtet werden kann.

 

Man könnte noch – neue Bergschuhe sich kaufen lassen.

Etc. usw.

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[1] Ein Grund dafür, keine Analysen über das Leben im Wallis heute zu machen, liegt im Umstand, daß das Leben im Dorf genau wie der Alltag in einem bestimmten, namentlich zu benennenden Betrieb analysiert werden müßte. Weil alles sowohl persönlich wie hierarchisch-organisatorisch miteinander verknüpft ist, teilweise gar, wo der Chef als Patron wirkt, wie in einer Familie, würde ein wertendes Urteil einem Eingriff und einer sehr frechen Einmischung gleichkommen, die in einer Betriebsanalyse der Chef zu unterbinden weiß, im Wallis aber in den Dörfern aggressiv auf brave schutzlose Häupter träfe.

[2] Das Vorgehen des seiner selbst bewußten Fragments ist das Stöbern, in welchem eine ungreifbare Struktur aufgewirbelt wird wie Staub, um die nunmehr klar sichtbaren Momente festzuhalten.

[3] Man könnte noch das Rothorn erwähnen als Aussichtspunkt für die Leuker Sonnenberge, aber sein Erreichen auf dem Grat der Bella Tola ist einigermaßen abschüssig, ganz zu schweigen über die Leitern vom Rotse her oder gar vom Schwarzhorn.