Wo immer man und frau das Augenmerk weltweit hinzulenken trachtet, schlägt in blindem Trotz das schlechte Leben zurück. Je geduldiger die Aufmerksamkeit, desto hoffnungsloser erscheinen die Möglichkeiten, den offenbaren Verfall dessen, was durch Menschen in Gang gesetzt wurde, durch Worte und Taten aufzuhalten. Nicht zuletzt dünken die euroamerikanischen Impulse überlebt, weil zu offensichtlich das Elend an diesen Heimatorten seine Herkunft hat und durch deren Ideen und Praktiken selbst gerade produziert worden ist. Soll aber angesichts der genannten Tatsachen nicht überhaupt jede gutwillige Anstrengung diskreditiert, sondern umgekehrt weiterhin und in zunehmendem Maße mit Vernunft über vernünftige Vorschläge diskutiert und politisch beratschlagt werden, so hat man als Grundlage eine Behauptung zu akzeptieren, die nicht wenig verquer anmutet:
dass in der Geschichte
Lernprozesse zu beobachten sind,
die der Gattung Mensch
insgesamt zuzuschreiben wären– also nicht den Personen und Gruppen, die sie in Tat und Wahrheit vollzogen haben und ebenso wenig ausschließlich den Kulturen, innerhalb derer solche geschehen konnten. Dem durch Erfahrung geprägten abwehrenden Verdacht gegenüber dieser Grundannahme, dass Geschichte und Lernen zusammengehören, hervorgerufen durch den nicht vertuschbaren Bruch zwischen Leben und Theorie, gesellen sich andere, nicht minder schwankende hinzu, die teils im schönen Glauben stehen, gegen die Anmaßungen einer kulturellen Selbstüberheblichkeit gerichtet zu sein, teils den bequemen praktizieren, Geschichte und Politik könnten nur im Lichte entweder des Optimismus oder des Pessimismus betrachtet werden.
1.Kinder und die Gattung
Dass es zur Eigentümlichkeit der Kinder gehört, sowohl lernbegierig wie auch lernfähig zu sein, konnten seit jeher weder diese selbst noch die Alten mit weitreichenden Konsequenzen in Frage stellen, auch keine in strengen Sitten Lehrende. Demgegenüber könnte man versucht sein, der modernen Idee von phylogenetischen, d.
h. gattungsmäßigen Lernprozessen vorschnell die Annahme eines unilinearen Fortschrittmodelles der Geschichte zu unterschieben, also einen geradezu frivolen Optimismus, der neben dem technischen Fortschritt auch einen moralischen in romantischer Verklärung als Grund und Wesenszug der Geschichte anzugeben hätte. Diese Unterstellung ist zu korrigieren. Mit der Idee, dass die Gattung
Mensch in der Geschichte und durch sie einen Lernprozess durchmacht, steht nämlich keineswegs gleichzeitig herausfordernd zur Debatte, ob dieselbe sich auch moralisch bessern würde; ebenso wenig ist mit dieser Idee ein Gattungssubjekt angerufen, auf das die geschichtlichen Ereignisse bezogen werden müssten und das dieselben zur Bagatelle herabsetzen würde.
Denn nichtsdestoweniger und gegen alles Vergessen ist es eine Tatsache, dass eine geschichtliche Abfolge von bestimmten Texten immer schon vorliegt, die mehr oder weniger rein theoretisch und begrifflich ausgerichtet sind. Deren Mittel sind Argumentationen und Schlussfolgerungen, die nur in einem Kontext funktionieren können, der von logischen Voraussetzungen – von Prämissen –
getragen wird. Zudem stehen alle theoretischen Texte in einem mehr oder weniger deutlichen Verhältnis zur Politik, auch selbst da, wo sie sich allein mit dem Wirkungskreis der Einzelmenschen und der Idee des Individuums beschäftigen.
Betrachtet man den historischen Wandel in der Theorie, so besteht einer seiner kräftigsten Impulse im Außerkraftsetzen von Prämissen, durch Argumentation. Die Prämissen sind im strengen, sozusagen akademischen Kontext der Theorie logischer Natur; da die Theorien aber in einem Bezug zur Politik stehen, haben auch die Prämissen – auch als rein logische Voraussetzungen – einen
gesellschaftlichen Gehalt und eine gesellschaftliche Relevanz.
Folglich ändert sich mit den Theorien auch die Argumentationsweise in der Politik, die Mächtigkeit der einzelnen legitimierenden Argumente – mit dem hoffnungstrübenden Unterschied, dass durch die Interessengebundenheit der sprechenden Subjekte der Geltungsanspruch nicht im gleichen Maße ernst genommen werden darf wie in der Theorie, jedenfalls noch in der Gegenwart, in der die
Politik weniger durch die Regulierung sachlicher Verhältnisse bestimmt ist als durch die Verteidigung von subjektiv interessegeleiteten, objektiv lächerlichen Positionen der Macht.
2. Die Einsichtigen und die historisch Verspäteten
Es ist ein müdes und bloße Müdigkeit verbreitendes Lamento, politische Diskussionen und aufklärerische Aktivitäten dadurch in Frage zu stellen, dass man auf der Tatsache herumreitet, nur Einsichtige wollten noch mehr Recht auf Einsicht, und diejenigen, die durch die aufgeworfenen Probleme anvisiert seien, würden sich bereits beim Angesprochenwerden abgeschreckt in die nächstliegenden Büsche schlagen. Die Infragestellung der Aufklärung könnte von den Betroffenen und Angeschuldigten nicht besser vorgeschoben werden. Sie verkennt aber zuinnerst, dass die bewusste Geschichte auf die Einzelnen nicht durchwegs angewiesen ist: Gewissermaßen schreitet sie mit weitsichtiger Toleranz ihre Straßen ab. Dabei werden die Uneinsichtigen desto mehr zu Nichtigkeiten, mit je weniger Rücksichtnahme sie sich nach der geschichtlichen Zeit richten wollen. Man braucht nicht den reaktionären Ballast bei der klassischen Phrase zu fürchten, Freiheit erwächst in der Einsicht in die Notwendigkeit, wenn man die Meinung diskutiert, Vernünftigkeit stünde, auch wenn sie damit nicht ineins fällt, mit den gegebenen Verhältnissen in Korrespondenz, die sich in sachlichen Forderungen – wie solchen nach weniger Gewalt, weniger Kulturindustrie, weniger Motorenlärm etc. – dokumentieren würden. Denn in der Geschichte geht es nicht darum, dass die einzelnen sich blind anzupassen hätten, auch dann, wenn sie sich selbst verwirklichen wollen; entscheidend ist die Auffassung, dass das Lernen in ihr nicht zu einer Überreizung führt, solange es nicht als unverbindliches Spiel verstanden wird. Die Individuen nehmen keinen Schaden, sofern sie sich danach richten, und sie sprengen nicht heroisch die Zeit, sofern sie darüber sich aufzuspreizen die Absicht hegen.
3. Die Philosophie und die philosophisch Verschreckten
Ähnlich wird gesagt, die Philosophie sei gut bloß für Philosophierende, wie die seriöse Kunst interessant sein könne nur für künstlerisch Begabte, für solche, die gewillt sind, den Akt der Kunstproduktion in der Rezeption insgeheim und von neuem schöpferisch nachzuvollziehen. Wie immer eigentümlich das Phänomen erscheinen mag, dass die philosophischen Texte sich auch dann entwickeln, wenn öffentlich sie kaum wahrnehmbar diskutiert werden – es ist genau dieser Umstand (der es im übrigen einem leicht macht, sich von der Philosophie fernzuhalten), der der Forderung nach dem Auflösen der gewaltdienenden Institutionen Objektivität verleiht. Die Wendung gegen das Militär und dessen Ablagen im zivilen Leben und in der Zivilisation insgesamt ist von daher nicht moralisch, sondern geschichtlich motiviert. Nicht die Tatsache, dass die Gewalt die Freiheit von einzelnen, und von massenhaft individuellen Menschen zerstört, bildet den Einwand gegen die Gewalt – die so auch gegen falsche Verhältnisse kaum mehr in Anspruch genommen werden dürfte – sondern ein objektiver, geschichtlich herangewachsener Argumentationsstand, der in den zeitgenössischen Texten der Philosophie eine stabile Form hat annehmen können, nicht zuletzt da, wo die Texte selbst alles andere als stabil erscheinen.
4. Die Demokraten in der Technokratie
Ist also das Wissen, sofern es Verbindlichkeit beansprucht, als Moment der Gesellschaftsprozesse, die Gewalt entweder fördern oder – wie der Tausch – zurückbinden, nicht an technokratische Strukturen und Voraussetzungen gebunden, so dass der und die demokratische Einzelne davon quasi ausgeschlossen wären, sich nicht nur nicht darum zu kümmern brauchten, sondern im eigentlichen Sinne sich auch nicht selbständig darum sorgen dürften? Nein, es gibt kein Wissen, das nicht in den Alltag hineinspielen würde und kaum eines, das ihn nicht mehr oder weniger spürbar zu prägen vermöchte. Das Technokratische lässt sich vom Demokratischen ebenso wenig ablösen wie das Technische von den natürlichen Umweltverhältnissen. Fehlerhaft sind beide nur – das Technokratische wie das Technische – wo sie die benutzten Zeichen auf deren Instrumentalität reduzieren, als ob sie bloße Konventionen und von daher jederzeit ersetzbar wären. Diese Fehlerhaftigkeit lässt sich im Einzelfall dadurch beheben, dass der Sinn der Zwecke gesellschaftlich problematisiert und politisch diskutiert wird – der gute Sinn der Mobilität, der wahre Sinn der Akkumulation von Privat- oder Nationalstaatskapitalien, der schöne Sinn von uniformer physischer und mentaler Abschreckung.
5. Die Philosophen und die Geschichte
Rückblickend, in der Geschichte, haben die Philosophen, wenn sie konkret sein wollten, fast ohne Ausnahme katastrophale Tipps für die politische Praxis gegeben. Trotzdem kann durch die Aneignung ihrer Texte in idealtypischer Form der Lernprozess der Gattung Mensch nachvollzogen werden. Befreit von den Namen ihrer Protagonisten, ist die Philosophie keine privilegierte Form des Wissens, sondern die Stelle des Parlaments, wo über die logische Kraft von Argumenten solange diskutiert wird, bis die überalterten, nicht mehr zeitgemäßen bei den Akten der Geschichte deponiert werden können.
Allerdings ist das Argumentieren nicht immer schon im Zentrum der Philosophie gestanden, wie sich das heute einfach formulieren und begreifen lässt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts zehrten die philosophischen Diskurse davon, das Ideologische und Dogmatische aus denselben auszutreiben – wo und bei welcher Philosophengruppe im 20. Jahrhundert die Kraft des Argumentierens frei sich hat entfalten können, lässt sich nicht ohne giftige Streitigkeiten festlegen, wenn auch alle wirklichkeitskonformen, also nicht bloß historistischen, akademistischen oder privatistischen Theorieproduktionen gleichermaßen sich darauf hinzubewegt haben.
6. Die Einzelnen und die Interessen
Im Verlauf des Lebens ändert man seine Grundeinstellungen kaum; dieser Tatbestand ist ein Hinweis auf die soziale Determinierung. Deshalb muss berücksichtigt werden, dass es verschiedene Interesselager gibt, und sie sind nicht nur auf die Herrschaftsverhältnisse zurückzuführen, die sich durch Legitimationsfragen kritisieren lassen. Wie immer man sich zur Not des sozialen Zwanges stellt – dass es konfligierende Interessen gibt, die nicht auf ökonomische reduzierbar sind, darf nicht unterschlagen werden. Auch das bedeutet, dass die Vernunft in der Geschichte, die einem Lernprozess ausgesetzt ist, nicht dieselbe ist wie bei den Individuen, die sich ihr in den Weg legen können, ohne selbst als unvernünftig erscheinen zu müssen. Man und frau täuscht sich heute leicht über die anscheinenden Unmöglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen, wenn das falsche Verhalten einzelner zur pechschwarzen Summe einer gesellschaftlichen Realität zusammengefasst wird; es braucht keine große Willenskundgebung, um solche in ihre infantilen Schranken zu verweisen.
7. Die Moral und die Belehrung
Weder der erwachsene Mensch noch das Kind lassen sich durch moralische Argumente direkt beeindrucken; beim Kind bedarf es der Bilder, auch der blumenreligiösen, beim Erwachsenen kann nur ein umfangreiches Miteinbeziehen von scheinbar amoralischen Interessen, auch solchen der bloßen Unterhaltung, Hoffnung verschaffen. Der Kern des Moralischen selbst hat sich dann von alleine herauszulösen. Und natürlich ist es ausschließlich dieser, der die Veränderungen zu veranlassen imstande ist. Keine Doktrin, keine Kugeln, keine Bomber.
8. Gewalt und Moral
Die Gewalt ist ein Phänomen auf derselben empirisch-faktischen Ebene wie das moralische Sprechen. Das heißt, dass sie alles andere als ein substantieller Moment ist, zu dem das Moralisieren, das moralisierende Sprechen insbesondere über Einzelne affirmativ oder ablehnend Stellung nehmen würde. Der Wert der Gewalt ändert
sich in der Geschichte wie die Formen der politischen Moral, die sich in rationalen Argumenten sedimentierten.
Institutionen, die sich auf Gewalt stützen, und verstreute Einzelne, die sich auf Einschüchterung spezialisieren, sind vom menschlichen Geist verlassene gespenstische Gestalten, aufgescheucht aus den Deponien der Geschichte. Sie verdienen in der Gegenwart keine theoretische Beachtung – sie sei noch so kritisch – sondern praktische Ächtung.
9. Der Imperialismus in der Wahrheit
Doch ist dies im ganzen immer noch eine idyllische Beleuchtung der Philosophie, die nur sichtbar machen wollte, welches ihr unausweichlicher Nutzen ist – vornehmlich gegen das Willkürliche in der Gesellschaft – der sich auch dann einstellt, wenn kein Mensch sich nach ihr richtet. Man hat es hier nur mit derjenigen Seite der Philosophie zu tun, die keine Anstrengung abverlangt. Ebenso sehr ist sie, als Geschichte der Vernunft, mit der Geschichte als Katastrophe in abgründiger Verbindung. Wenn heute das Geschehen moralisch erschüttert, in Lateinamerika, Asien, Afrika und im nächsten Osten, so steht die Philosophie auch im Schatten davon, nicht als Opfer, sondern als eifrige, aber immer geständige und befragbare Komplizin.
Ueli Raz, Bern, Februar 1993