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Adorno, Bourdieu, der neu erwachte Philosophiezentrismus und das Regressvokabular als Effekt des Popularwissens

Nach der einleitenden, an der Literatur orientierten Konstatierung des Mangels einer Diskussion zwischen Strukturalismus und Negativer Dialektik (1) wird auf eine problematische Tendenz bei Bourdieu hingewiesen, die wesentlich eine Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Folge hat (2). In kaum späterer Zeit ist im Umfeld Derridas eine Kunst des Herstellens philosophischer Texte erwachsen, die gesellschaftliche Fragen ausblendet und sich vornehmlich mit Begriffen abgibt, die am ehesten als Unbegriffe verständlich zu machen wären (3). Nach allgemeinen Vermittlungsfragen bzw. solchen nach der Reichweite der Legitimität einzelner Theorien und dem Postulat einer Lücke in Bourdieus Konzept (4) wird diesen zwei Extrempositionen des Neostrukturalismus zunächst bloß Adornos frühe Konzeption der Philosophie als Deutung bereits vorgegebener Gebilde kontrastiert, die einen Verbindlichkeitsanspruch erheben (5), dann, gemünzt allein gegen den sehr strengen Determinismus Bourdieus, das Phänomen des Regressvokabulars bzw. der Ankersteine, deren Wirkung außerhalb jeder sozialen Ordnung geschieht, die mehr wäre als das reine Warenverhältnis, zur Wahrnehmung paradoxerweise die Stoßrichtung der genannten Autoren voraussetzt (6). Die abschließenden Bemerkungen betreffen allgemeine Fragen des geschichtlichen Ursprungs, der Funktion und der Behandlung der Ankersteine (7).

 

1. Adorno und der Strukturalismus

In den 1968 gehaltenen Vorlesungen zur Einleitung in die Soziologie bekundet Adorno zweimal sein Interesse an einem Seminar zum Strukturalismus. [1] Nach einer kurzen Gegenüberstellung der Methoden von Weber und Durkheim und der Herausstreichung der geläufigen Bezeichnung der Soziologie des Franzosen als „Chosisme“ sagt er: „Spuren dieser Auffassung überleben heute in dem französischen Strukturalismus, dem ich übrigens eines der nächsten Hauptseminare widmen möchte, weil ich finde, dass es sich gehört, dass die deutschen Soziologiestudenten gerade von diesen Dingen doch auch eine Kenntnis aus erster Hand sich erwerben können.“ (p. 133) Später kommt Adorno auf sein Interesse zurück, an einer Stelle, wo er klarmacht, dass soziologische Theoriebildung auf Phänomene angewiesen sei, die nicht ohne weiteres als rein gesellschaftliche dastehen: „So entnimmt also, um auf eine jüngste Erscheinung innerhalb des gesellschaftlichen Denkens zu rekurrieren, der Strukturalismus, der französische Strukturalismus, der vor allem mit den Namen Lévi-Strauss und Lacan verbunden ist und der das soziologische Denken sehr stark beeinflusst – ich hoffe, im übernächsten Semester ein Seminar über Strukturalismus abhalten zu können –, dieser Strukturalismus entnimmt im wesentlichen und aus durchaus gerechtfertigten, in seiner Theoriebildung gerechtfertigten Motiven sein Material zunächst einmal der Anthropologie und darüber hinaus sehr spezifischen Richtungen der Sprachforschung, nämlich den phonologischen, wie sie vor allem etwa von Trubetzkoj in Wien vertreten werden. Und wenn man den Strukturalismus, der sich wesentlich als eine Theorie der Gesellschaft versteht, von diesen ethnologischen oder anthropologischen Materialien trennen wollte, dann bliebe von seiner Konzeption eigentlich überhaupt nichts übrig.“ (p. 174f)

 

In den Gesammelten Schriften ist Adornos Verhältnis zum Strukturalismus nur schwer herauszulesen, und namentlich Bourdieu hat er nicht mehr kennengelernt. Nimmt man die zwei Stellen aus der Soziologievorlesung von 1968 beiseite, so weist alles darauf hin, dass er ihn als Mode avant la lettre verstanden hat, auf die man nicht mit großem Aufwand einzugehen braucht (Günther Schiwys Strukturalismuskritik erschien erst ein Jahr nach dieser Vorlesung).

 

Die ersten Zeilen in Adornos Text Einleitung zu Emile Durkheim, „Soziologie und Philosophie“ lauten: „Durkheims Wirkung zumindest im eigenen Land überdauerte die unmittelbare Schule; noch im gegenwärtigen Strukturalismus sind Motive aufzudecken, die von ihm stammen.“ [2] Um dieselbe Zeit, zweite Hälfte der sechziger Jahre, wird er, nachdem von der immanenten Kritik die Rede war, in einer Diskussion gefragt, „ob die Methodologie innerhalb dieser Idee der immanenten Kritik eine Rolle spielen kann, die man heute in Sprachphilosophie und allgemeiner Linguistik erreicht und wo man nach der Wiederaufnahme von Ferdinand de Saussure dazu gekommen ist, die Möglichkeiten einer strukturellen Analyse synchron und nicht diachron zu definieren. (… )“ Adornos Antwort: „Ich darf dazu nur sagen, ich bin nicht kompetent. Ich glaube allerdings, dass der durchaus positivistische Ton jener Theorie mit der dialektischen Position, wie ich sie zumindestens mit dem gemeint habe, was ich immanente Kritik nenne, sich nicht vereinen lässt. Aber das ist nun wirklich eine erkenntnistheoretische Frage.“ [3] Im Umfeld der Kategorienfragen von Statik, Dynamik und Entwicklung, die Adorno schon Anfang der sechziger Jahre zu einer kritischen Wendung gegen die vom Komponisten Messiaen vertretene Idee des Endes der geschichtlichen Entwicklung veranlasste (AGS 8, p. 217), nimmt sein Programm gerne den plakativ gewordenen und desto missverständlicheren Zug eines Hegelmarxismus an, ohne nämlich immer leicht als dessen Kritik, wie sie sich vorab an Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein zeigte, wahrnehmbar zu sein (vgl. die Vorlesungsmitschrift von 1951/52 in den Frankfurter Adorno Blätter II, 1993). – Zum erstenmal den Strukturalismus erwähnt hat Adorno 1955 im Textentwurf Zum Problem der Familie: „(… ) Die moderne französische Soziologie der Durkheimschule, insbesondere Marcel Mauss und Claude Lévy-Strauss (sic), haben, im Gegensatz zu älteren Auffassungen, das für die Familie grundlegende Inzestverbot nicht aus sogenannten natürlichen oder psychologischen Gegebenheiten abgeleitet, sondern als `totale gesellschaftliche Phänomene' bestimmt, und zwar wesentlich aus den Bedürfnissen einer Tauschgesellschaft nach festen Eigentumsstrukturen.“ (AGS 20.1, p. 302)

 

Umgekehrt haben weder die heterogenen Kräfte des orthodoxen Strukturalismus (Lévi-Strauss, Lacan, Althusser und Piaget) noch der kritische (Foucault, Bourdieu, Deleuze und Derrida) sich substantiell auf Adorno eingelassen.

 

In folgenden Texten wird auf Adorno Bezug genommen, wenn auch, wie angetönt, meist nur in der Form der Anspielung oder des pauschalen Negativurteils: Michel Foucault und Gérard Raulet, Structuralism and Post-Structuralism, Telos, 55, 1983 (dt. unter dem Titel Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? Spuren 1 und 2, 1983, p. 387). Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt am Main 1988, p. 11 (zustimmend p. 106f) und, im konträren, aber ebenso schematischen Vorwurf Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main 1982, p. 602 und 798; „Vernunft ist eine historische Errungenschaft, wie die Sozialversicherung“, Bernd Schwibs im Gespräch mit Pierre Bourdieu, Neue Sammlung, 3, 1985, p. 387; Der Kampf um symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, Ästhetik und Kommunikation, H. 61/62, 1986, p. 144 und 153; Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1993, p. 199. Jacques Derrida, Die Postkarte, von Sokrates bis an Freud und jenseits, 1. Lieferung, Berlin 1982, p. 221; Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt am Main 1988, p. 95; Ulysses Grammophon, Berlin 1988, p. 66; Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989, p. 53; Gesetzeskraft. Der „mythische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 1991, p. 64 und 122. – Es besteht seit längerem ein diskursives Verhältnis Derridas mit der amerikanischen Critical Theory Group, in den sechziger Jahren eines in Paris zu adornoerfahrenen amerikanischen und englischen Gaststudierenden (vgl. Michael Ryan, Marxism and Deconstruction, Baltimore and London 1982). In Frankfurt selbst beginnt die Mauer erst ganz sachte zu bröckeln mit dem Band von Jutta Georg-Lauer (Hrsg.), Postmoderne und Politik, Tübinger Beiträge zur Philosophie und Gesellschaftskritik, herausgegeben von Gerhard Gamm und Gerd Kimmerle, Band 4, Tübingen 1992. In diesen Umkreis gehören auch die Arbeiten des Übersetzers García Düttmann und des Ästhetikers Menke, die noch erwähnt werden. – Die magere Auseinandersetzung der Franzosen begnügt sich des weiteren gänzlich mit dem Adorno der Musikphilosophie und der Ästhetischen Theorie: Révue d'esthétique, 1 und 2, 1975. Raymond Court, Adorno et la nouvelle musique: art et modernité, Paris 1981. Marc Jimenez, Adorno et la modernité: vers une esthétique négative, Paris 1986; Theodor W. Adorno: art, idéologie et théorie de l'art, Paris 1973. Marie-Elisabeth Duchez, L’évolution scientifique de la notion de matériau musical, in: Jean-Baptiste Bassière (éd.), La timbre, métaphore pour la composition, Paris 1991. Aus dem Umkreis des kritischen Strukturalismus kann zum Abschluss der Buchhaltung nur erwähnt werden Philippe Lacoue-Labarthe, Musica ficta: figures de Wagner, Paris 1991.

 

Soll nun zum Thema gerade dieses luftige Verhältnis gemacht werden, das keine Beziehung entstehen ließ, weil zumindest der Strukturalismus es auch heute noch zu meiden versteht, so fehlen dementsprechend objektive, verlässliche Materialien, auf die sich die Deutung stützen ließe. Man muss damit rechnen, dass die Konstruktion ein Phantom gebären wird, die Ankersteine und das Regressvokabular, ein Gebilde, das auf gestellte Fragen keine definitiven Antworten zu geben imstande ist, weil solche Fragen hier leicht deplaziert erscheinen (natürlich betrifft dies immer die Fragen der hierarchisierenden Wertung und des pragmatischen „Realismus“: die Frage, welche Konzeption einer anderen vorzuziehen sei, verdrängt diejenige nach dem Wahrheitsgehalt und der Verbindlichkeit der textlich-theoretischen Gebilde, die durchaus Nichtkommunizierbarkeit zur Implikation haben kann) – ein Phantom zudem, von welchem nicht nur der empirische Status äußerst fragwürdig ist, sondern überhaupt auch nur im thematisierten Autorenumfeld Sinn zu machen scheint. Falls es die Darstellung einer Inbeziehungssetzung erlaubt, so doch nicht eine Bewertung der einzelnen Seiten, schon gar nicht einzelner konkreter Werke aus ihnen; sein Verhältnis zu diesen Beziehungen ist letztlich abgesplittert, wie der strahlende Schatz der Kluft im Gebirge.

 

Im Bereich der schriftlichen Veröffentlichungen ist dieses Problem der Verdecktheit auseinander-, gegeneinander- und miteinanderlaufender Tendenzen durchschaubar, da hier die Interessen manifest sind und sich auf quasi natürliche Weise voneinander unterscheiden. Bedenkt man hingegen die Situation des Lesesubjekts, das alle Lektüren vereinigt, wie auch die Nervosität der wissenschaftlich-intellektuellen Praxis, deren Verantwortlichkeit durch Privatinteressen absorbiert werden kann, so ist ein Zustand um so fahrlässiger, in dem Theorien in einer solchen Nähe zueinander erscheinen, wie sie den Bekenntnissen oder den faktischen Aussagen nach sich voneinander distanzieren. Zumindest in einer Grundintention, die kaum jemals ausgesprochen wird und die die Kommunikation vielleicht mehr stört als fördert (man hat es in der Tat mit einem Babylonismus zu tun, verursacht nicht durch falsche Intentionen, sondern durch die absolute Bedeutungslosigkeit der Gebundenheit gewisser Schulen sei es an provinzielle oder mondäne Orte), vibrieren die Texte des kritischen Strukturalismus mit der gleichen Schwingung wie die Adornos. Es ist nicht undenkbar, dass man dieses gemeinsame Band einmal wieder, in schuldhafter Verspätung, als Aufklärung, Projekt der Moderne, als Kapitalismus- und als Metaphysikkritik etc. erkennen wird, dem Schein nach einer persönlichen Stilistik verhaftet, der Sache nach aber ohne eigene, idiosynkratisch oder privatsprachlich abgeschottete Entwurfsintentionen. [4]

 

Bekanntlich ruhen im Hintergrund dieser fehlenden bzw. fehlgeschlagenen Auseinandersetzung klassische Theorien der Gesellschaft, der Kultur und der Macht, auf die sich sowohl Adorno wie der Strukturalismus kritisch beziehen, wenn sich auch, wie Adorno im Eingangszitat festhält, soziologische Theoriebildung weit eher an einem speziellen Gegenstand entfaltet als in einer allgemein gehaltenen Theoriekritik. [5] Im Rahmen der aufgeworfenen Frage behalten sie – die linguistische Operation als Strategie gegen die Autonomieseligkeit des cartesischen Rationalismus, die hegelsche Vermittlung und die Kritik der politischen Ökonomie, auch die Aufzeichnungskunst der empirischen Sozialwissenschaften – jedenfalls ihre beschränkte Gültigkeit, soweit diese von beiden Seiten vorausgesetzt wird, auch nur um von einzelnen ihrer Theoreme und Prämissen sich distanzieren zu können. Die unangetastete Gültigkeit betrifft insbesondere diejenigen Konzepte, die die Produktion, die Reproduktion und die Verdinglichung des sozialen Bewusstseins thematisieren.

 

In einer Sparte allerdings müssen die klassischen Theorien gerade auch auf dieser Diskussionsebene der Kritik ausgesetzt werden, weil sie diesen Bereich seit jeher ignorierten: betroffen ist die Frage der reproduktiven Wissensvermittlung, die Permanenz der Verzogenheit der Adressaten. Denn ineins mit der Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis Adorno vs. Strukturalismus lautet die diesbezügliche latente Grundfrage, die hier zu exponieren ist, warum wahre Gebilde im sozialen Reproduktionsprozess untergehen und das Unverbindliche, Kulturindustrielle an Wirkungskraft gewinnt. Es handelt sich hier mit anderen Worten um nichts Neues, welches das Alte obsolet machen würde, sondern um eine Fragestellung, die im Horizont der klassischen Theorien eine supplementäre, sie unterstützende Perspektive ausarbeitet, die nicht ihre Wahrheit betrifft, sondern ihre soziale Verleugnung.

 

An den Schluss der Einleitung gehört noch der Hinweis, dass das Thema a priori kein empirisches ist. Es wird über keine Sache gesprochen, und es besteht keine Absicht, eine solche Sache besser beherrschen zu können – das Regressvokabular und die Ankersteine lassen sich nicht inventarisieren. Das Thema, das keine Umschließung nach sich zieht, kann ausschließlich solche berühren, die sich als Teilnehmende an demjenigen wissenschaftlichen oder intellektuellen Diskurs verstehen, in den sowohl die Texte aus Frankreich eingelassen sind, die der Phänomenologie und dem Strukturalismus folgen, wie auch diejenigen aus dem deutschen Sprachraum, die sich um die Kritische Theorie gruppieren. Endlich gehört zu den wissenssoziologischen Prämissen dieses Aufsatzes die Annahme, dass die diskutierten bzw. in eine Beziehung gebrachten „Positionen“ aus den schon erwähnten babylonischen Verhältnissen der schiefen Ebenen nicht gleichgewichtig bekannt sind: Bourdieus Anstrengung, Begriffe konstruktiv zu erproben, die die soziale Realität realistisch, d. h. nicht ohne den Einschlag sozialtechnologischer Distanzierung deuten lassen (seine Entwicklungsperspektive ist dezidiert a-utopisch und hinsichtlich Eingriffsmöglichkeiten eher verhalten); Derridas Unternehmen, minutiös metaphysische, d. h. auf der philosophischen Ebene ethnozentrische Anleihen auch in unverdächtigen Texten bzw. Textpassagen aufzuspüren; Adornos singuläre Tatkraft, an empirisch vorliegenden Gebilden begrifflich-sachlich, d. h. ohne utopisches oder subjektives Apriori exemplarische Deutungen zu erproben, mit der Vorstellung, dass die Erfahrungsfähigkeit der sozialen Bewusstseine durch die Kultur-, Finanz- und Militärindustrie nicht vollends zugeschüttet würde und zumindest im Sinne des über den Winter Bringens immer wieder neu aufgebrochen werden könnte. Objektiv gehört dazu, dass das mehr oder weniger absichtsvolle aneinander Vorbeisprechen, Ignorieren und falsche Kritisieren durch leicht versetzte Interessenlagen, die sich weder auf Machtfraktionen reduzieren noch sonstwie auf eindeutige Habitus fixieren lassen, provoziert worden war. Sind Bourdieus Interessen handlungstheoretisch etikettierbar, so diejenigen Adornos wissenstheoretisch, jene des Philosophiezentrismus im Gefolge Derridas literarisch bzw., in Anlehnung an die Sprachphilosophie, deren Gemeinsamkeit von Genauigkeit und Naivität ihn offenbar fasziniert, metaphernanalytisch. (Nochmals: genügt eine technisch-sozialwissenschaftliche Instruktion, um Bourdieu zu folgen, so setzt die Adornolektüre ein affirmatives Verhältnis zum „Wissen“ voraus, diejenige Derridas Kenntnisse technischer Probleme in der Literaturproduktion der Moderne.)

 

2. Das Metaphysische im Strukturalismus Bourdieus

Im Bereich der reproduktiven Wissensvermittlung und der rezeptiven Wirkungslosigkeit der Theorie nimmt Pierre Bourdieu eine besondere Stellung ein, deren Vorzüge unter anderem darin liegen, diese Fragen überhaupt zu artikulieren und sie – was noch bewundernswürdiger dasteht – empirisch aufzuzeichnen. Und doch scheinen seine Werke gerade mit dieser Frage an der Wirklichkeit vorbeizugreifen, indem sie jede autonome Regung des individuellen Vernunftmenschen kategorisch zuschütten. Was die Idealität einer Disziplin, insbesondere ihre Begriffssprache, erfordert, wird in ihnen rückhaltlos ontologisiert, als sei das Individuum soziologisch nicht ein Problem, sondern etwas in den realen Feldern der Gesellschaft immer schon Aufgelöstes. Der Empirismus scheint hier nicht wenig dienlich, weil jede Aussage qua soziales Werturteil einem Ort zugewiesen werden kann, der nicht zuletzt eingezeichnet auch auf der Karte der sozialen Hierarchien von einer stabilen Ordnung zeugt.

 

Obwohl der Strukturbegriff bei Bourdieu aus einer Kritik am Allgemeinheitsanspruch desjenigen von Lévi-Strauss heranwächst, über die Arbeit Zur Soziologie der symbolischen Formen und den Entwurf einer Theorie der Praxis, ist er doch präziser zu erkennen, wenn er dem Projekt Althussers gegenübergestellt wird. Denn je mehr dieser ihn in die empirische Wirklichkeit der Epoche des Kapitalismus einschreibt, desto rationaler im Sinn der klassischen Philosophie stehen die Individuen am Rand dieser Struktur. Indem Bourdieu die Idee der Autonomie des rationalen Handelns kritisiert – die nicht zuletzt die Freiheit der revolutionären Tat beschwört – gelingt ihm, gerade auch durch empirisch wissenschaftliche Analyse, die Darstellung der praktischen Gelebtheit der objektiven Struktur in den scheinbar selbständigen Handlungsweisen der Individuen. Diese bewegen sich in einem Ressourcensystem der Verknappung und Erweiterung. Wenn dieses auch um die reine Ökonomie zentriert ist, so sind seine Kapitalien doch nicht nur wirtschaftlicher Prägung, sondern, bedeutsamer noch, sozialer, symbolischer und bildungspolitischer. Das Struktursystem der vier Kapitalien der Ökonomie, Sozialbeziehung, Kultur und Bildung bzw. Ausbildung erlaubt die Ausarbeitung eines Begriffsgefüges, das dezidiert gegen jedes Pathos der individuellen Denk- und Handlungsfreiheit vorgehen kann, ohne einem blinden Determinismus im Sinne eines amor fati oder einer strapazierten Mythologica huldigen zu müssen. Sollte man meinen.

 

Gemäß einer naiven, phänomenologischen und theoriefreien Einschätzung müssen zur Bestimmung eines sozialen Bewusstseins, sei es ein Individuum, eine Gruppe oder eine Klasse, drei Faktoren gleichwertig Berücksichtigung finden: 1. Das soziale Feld als Klassen- und Schichtzugehörigkeit mit dazugehörendem Bildungskapital. 2. Äußere Stationen der Biographie: die effektiv besuchten Schulen, das konkrete individuelle soziale Milieu, die Lehrpersonen. 3. Innere, verschüttete Stationen der Biographie: der autoritäre Charakter, die Wunschmaschinen, das Temperament.

 

Trotz des riesigen Aufwandes bleibt auffällig, wie sich der Soziologe Bourdieu auf die Analyse des sozialen Feldes beschränkt, auch in Fragen des Bildungs- und des kulturellen Kapitals. Insbesondere scheinen Analyseansätze unterdrückt zu werden, die die strukturelle, das heißt innere Beschaffenheit von Werken mit derjenigen der Rezipienten vergleichen würde, weil das Risiko offenbar zu hoch erscheint, rationale Strukturen hervorheben zu müssen, die sich nicht aus Gesellschaftlich-Kulturellem ableiten ließen – in der geschlossenen Terminologie: Sinnstrukturen, die sich nicht ohne weiteres als sozial konstruierte darstellen lassen.

 

Bourdieu vertritt recht eigentlich die Position Kracauers als eines Soziologismus der Abwehr des Individuellen und Formalen im Objekt durch Auflösung der Produkte in die Handlungsweisen der Produzenten, eine Position, wie sie von Adorno schon Ende der zwanziger Jahre kritisiert wurde, wie sie aber im Gefolge Foucaults stärker als je an Boden gewinnt. In den Soziologischen Fragen [6] heißt es p. 131: „Ich will (… ) sagen, dass die allerspezifischsten Merkmale des Diskurses, seine Merkmale als Form, und nicht nur sein Inhalt, auf die sozialen Bedingungen seiner Produktion zurückzuführen sind, das heißt auf die Bedingungen, die für das gelten, was zu sagen ist, und auf die Bedingungen, die für das Rezeptionsfeld gelten, in dem dieses Zu-Sagende gehört werden wird. Auf diese Weise lässt sich auch der verhältnismäßig naive Gegensatz von immanenter und nicht-immanenter Werk- oder Diskurs-analyse überwinden.“ Adorno fordert dagegen (worauf zurückzukommen sein wird), dass das zu deutende Phänomen, das mithin weder eines der Natur noch im engen Sinne eines der Ökonomie ist, in dreifacher Hinsicht geschichtlich situiert wird: 1. Das Gebilde wird im selben Oberflächenzusammenhang, dem es angehört, aus der allgemeinen Geschichte herausgenommen und in der besonderen – zum Beispiel der musikalischen oder philosophischen – zeitlich und gegebenenfalls örtlich festgebunden. 2. Diese Relativierung wird aufgehoben, indem das Phänomen, das historisch alt oder jung sein kann, als Erkenntnisproblem der Gegenwart gefasst wird, also antihistoristisch, wobei das Gegenwärtige zu problematisieren ist. 3. Die Begriffe der Erkenntnis bzw. der Deutung sind dem aktuellen Diskussionsstand der Wissenschaften (im allgemeinen Sinne) zu entnehmen und bezüglich sowohl des Diskussionsstandes wie des Phänomens zu problematisieren. [7] Es sind alle drei Punkte, die Adorno dem kritischen Soziologen Kracauer entgegenhält: Kracauer ist in der Anschauung der Phänomene verhaftet, so dass er sie aus ihrem Immanenzzusammenhang nicht herauszulösen vermag und es zu keiner theoretisch-begrifflichen Vermittlung kommen kann; Kracauer untersucht das Umfeld der sozialen Gruppe, innerhalb welcher ein zu deutendes Phänomen, zum Beispiel die Operetten Offenbachs, zur Entfaltung heranwächst, ohne den Bezug des Produktes zur tieferliegenden Gesellschaftsstruktur herzustellen [8] ; Kracauer fehlt durchgängig eine verbindliche begriffliche Systematisierung, die sich auf die Produkte – nicht die Produzenten – beziehen würde. Bourdieu betont eindringlich die relative Autonomie und die Geschichte des Feldes (welches in seiner Versteinerung, wie er gleich Althusser sagt, zum Apparat wird); doch ist damit, beispielsweise in der Musik, nicht das Material gemeint, sondern das effektive gesellschaftliche Umfeld des Produzenten – gleich wie bei Kracauer.

 

Natürlich nehmen sich die Texte Kracauers gegenüber denjenigen Bourdieus vergleichsweise harmlos aus. Doch geht es bei diesem Distanzierungsmoment um ein Problem, das sich hier vielleicht als These fassen lässt: Der Realismus des Bewusstseins ist größer, wenn es einzelne Gebilde zu deuten versucht, die im Sinne Bourdieus legitim sind und einen Verbindlichkeitsanspruch erheben, als wenn die intellektuelle Anstrengung darauf ausgerichtet ist, die Produktionsverhältnisse der ProduzentInnen sowohl legitimer wie illegitimer Konzeptionen (ohne Unterschied von Meinen und Wissen, Kommerz und Kunst, Mythos und Aufklärung etc.) transparent zu machen, weil die Anstrengung obsolet würde, sobald sie einen Hintergrund nicht mehr deuten müsste, weil sie salopp auf ihn deuten könnte. (Erwachsen kann jener in den pädagogischen Institutionen – zu welchen auch die „Kulturveranstaltungen“ gehören – sofern sie ihre Aufgabe ernst nehmen, den Individuen die Fähigkeiten zukommen zu lassen, was in der verschütteten Biographie störend wirkt, bewusst ins Auge zu fassen; dies bietet die Aufarbeitung der verbindlichen Gebilde der Geschichte in allen Disziplinen, wenn sie sowohl in der Geschichte wie in Bezug auf die Gegenwart situiert werden.)

 

Bedenkt man, dass es sich bei Adorno und Kracauer um ein freundschaftliches Verhältnis handelte, so möchte ich mit einer Stelle aus dem schon erwähnten Vortrag Bourdieus belegen, wie nah er der Intention Adornos käme, wenn er seine Haltung nur expliziter mit derjenigen Adornos vergleichen würde: „Indem die Geschichte die Mittel und Grenzen des jeweils Denkbaren definiert, bewirkt sie, dass das, was in einem jeweiligen Feld geschieht, nie die unmittelbare Widerspiegelung der externen Zwänge oder der Nachfrage ist, sondern ein symbolischer, durch die gesamte spezifische Logik des Feldes gebrochener Ausdruck. Geschichte, niedergelegt in der Struktur des Feldes wie auch in den Habitus der Akteure, ist jenes Prisma, das sich zwischen der dem Feld äußerlichen Welt und dem Kunstwerk legt und alle äußeren Ereignisse – ökonomische Krise, politische Reaktion, wissenschaftliche Revolution – einer regelrechten Brechung unterwirft.“ [9] Das ist ein Statement, das mir weit eher den Adornoschen Denkweisen nahezustehen scheint als dass es die Arbeiten des Sprechenden adäquat zum Ausdruck zu bringen vermöchte.

 

Ziemlich abseits der Adornoschen Entwürfe steht er in den Analysen des Bildungskapitals, wo er die Frage nach den biographisch konkreten Umständen ausklammert. Von den durch psychoanalytische Kategorien zu erschließenden Autoritätswünschen, auf die die sozialen Gebilde wie Musik direkt zugreifen, schweigt er ganz und gar. Es geht dabei nicht um die Behauptung, dass diese beiden Punkte in den Sozialwissenschaften analysierbar wären, ohne sie zu sprengen – doch ist ihre Ignorierung symptomatisch.

 

Den letzten Anstoß zur Kritik, zur Aufstöberung des Symptoms und zu einem ersten Versuch der Formulierung eines Themas, das den Strukturalismus mit Adorno verknüpft, wurde der Sammelband von Gebauer und Wulf. [10] Denn der Theorieimperialismus nimmt darin fatale Züge an: Als hätten nun alle Bourdieu-fremden Stimmen zu verstummen, geht alles davon aus, dass es ausschließlich die soziale Position von Sprachakteuren ist, die sprechen oder sich von andern absetzen würde. Man muss recht eigentlich von einem Verzicht auf Realismus sprechen; er besteht darin, dass Bourdieu a) verbindliche Gebilde als „legitime“ nur denunzierend rezipiert und b) die Kulturindustrie im Verhältnis ihrer strukturellen, das Demokratische unterstützenden Notwendigkeit, die Adorno tabuisierte, auffällig stark aufwertet.

 

Eine Stelle soll genügen: „Entgegen der herrschenden Vorstellung, derzufolge die soziologische Analyse, wenn sie jede Geschmacksform auf ihre sozialen Produktionsbedingungen bezieht, die entsprechenden Praktiken und Vorstellungen reduziert und relativiert, lässt sich durchaus behaupten, dass sie diese dem Willkürlichen entreißt und sie verabsolutiert, indem sie sie zu ineins notwendigen und unvergleichlichen macht, zu solchen also, die zu Recht so bestehen, wie sie bestehen. Man kann wirklich behaupten, dass zwei Personen mit unterschiedlichem Habitus, die also nicht der gleichen Situation und nicht den gleichen Stimuli ausgesetzt sind, da sie sie anders konstruieren, nicht dieselbe Musik hören und nicht dasselbe Gemälde sehen und folglich nicht dasselbe Werturteil fällen können.“ [11] Das ist die letzte Segnung eines jeden formulierten Werturteils, nun ja, die letzte Ölung der Kritik. Fehlt nur noch der Aufruf zur Geschmackstoleranz, wie er die enge Welt der Popmusik gefangenhält. Man ersetze die Ausdrücke Musik und Gemälde durch die des literarischen und wissenschaftlichen Textes, und der Spuk löst sich von alleine auf, weil das Naiv-Realistische verleugnet werden müsste.

 

Bei diesem Strukturalismus handelt es sich immer mehr wieder um eine stabilisierte Soziologie, um eine Theodizee der sozialen Welt angesichts der intellektuellen Verfallspraktiken. Bourdieu beschreibt nicht nur die sozialen Praktiken der Menschen als Lurche, sondern er rechtfertigt sie zugleich, indem er keinen Raum findet, wo nicht verbindliche Theorieprodukte als elitäre, scholastische denunziert werden müssten. Die Verfallslinie neigt sich wie jede zur Spießersoziologie, die den epistemologischen Bruch zwischen Alltag und Wissenschaft verleugnet, um vom Alltagsbewusstsein konzessioniert werden zu können. [12]

 

Die Pointe der „legitimen“ Gebilde wäre, dass sie nicht im strukturalen Gefüge aufgehen, dass sie sich nicht aufrechnen lassen, sondern wesentlich dadurch charakterisiert sind, dass sie einen unverrückbaren Überschuss an Deutbarkeit aufweisen, der, als Rätsel, über sie als Ware hinausweist. Eine Gefahr besteht mithin bei Bourdieu, dass er den Wert des Wissens nur dann schon denunziert, wenn er es fachgerecht soziologisiert – an den aber auch er durchaus glauben will, wenn das Objekt der Analyse explizit den Bildungsinstitutionen, die er offenbar strikt von den Strategien des Bildungskapitals trennt, gewidmet ist. [13]

 

Wirkungsvoll ist Bourdieu da, wo er Mittel bietet, Theorien zu kritisieren, zu relativieren. Und er wird unmöglich, wo er seine Methode verabsolutiert. Seine Universalisierung ist nicht dogmatisch, aber hegemonistisch; sie führt in eine unbeabsichtigte, im ganzen Konzept ohne weiteres vermeidbare Soziodizee. Denn niemals gehorcht alles soziale Handeln einer mehr oder weniger versteckten sozialen Notwendigkeit (das ist eine methodologische Trivialität, die aber zu Entstellungen führt, je mehr sie ins Implizite abgeschoben wird). Dazu gehört, dass dann die kritische Tendenz Bourdieus in Apologie umkippt, wenn die strukturelle, das heißt kulturindustrielle Verhinderung von Erfahrung aus der wissenschaftlichen Analyse ausgeklammert wird, wenn alle Äußerungsmodalitäten, die legitimen und die illegitimen, die verdinglichten wie die subjektiv durchartikulierten, gleich behandelt werden (möglicherweise geschieht hier bloß eine Dialektik in der Subversivität der Begriffswahl, wo das Legitime kaum die Weihen des Kritischen zugesprochen erhalten kann).

 

Man muss offenbar abwägen. Dass es keine ideale Theorie der Erkenntnis und der Gesellschaft mehr geben soll, die Verbindlichkeit nur vortäuschen könnte, wäre gut; sie wird in der Praxis konstituiert, was die Lebensstilsoziologie als eine Variante der Wissenssoziologie zu analysieren vermag. Doch sind wahre Theorien nicht aus diesem Grunde bloß idealistisch, weil sie sich selbst nicht als in der Praxis konstituiert verstehen. Man ist nicht immer auf den Ursprung zurückgeworfen; man hat nicht immer davon zu träumen, wie Theorie überhaupt entsteht, und welche Entstehungsweise grundsätzlich zu falschen Gebilden führt. Denn wenn auch die Begriffsdichotomie Materialismus vs. Idealismus, die einst den Anschein gab, alle wesentlichen Widersprüche in sich zu versammeln, nicht obsolet geworden ist, so war sie doch eben auch nie exklusiv. Das ist nicht zuletzt ein Gewinn des Übergangs vom orthodoxen zum kritischen Strukturalismus, der einiges von Marx zu reformulieren imstande war, um das Korsett der Geschichtsphilosophie abzustreifen, die Grundintention aber nicht in jedem Fall postmodernistisch über Bord geworfen hat. Doch gerade die Frage, wieso nur falsche Theorien – kulturindustrielle – in der Praxis zum Zuge kommen, wird von Bourdieu zu sporadisch thematisiert; er gibt, wo es sozusagen ums Ganze ginge, keine vollständige Antwort, auf die man Bezug nehmen könnte. Obwohl seine Verklärung des Illegitimen teilweise nachvollziehbar wäre (sie korrespondiert mit Adornos Spott übers bürgerliche Lob des Geistigen), scheint sie des öfteren mutwillig getätigt zu werden. Allein dieser schlechte Wille, der permanent mit den Kategorien der (starken) Determinierung und der (schwachen) Prägung pokert, wird hier kritisiert, indem die Orte der Determinierung überhaupt in Frage gestellt werden. [14]

 

Um die Perspektiven auf den Fragehorizont zu wechseln, gesellt sich zum vorstehenden Halbirrealismus nun ein gänzlich anders gelagerter, zur Hälfte aber ebenso sehr vom Strukturalismus abkünftig, der in einer vorläufigen Form als Philosophiezentrismus gekennzeichnet wird.

 

3. Der Philosophiezentrismus

Es sind heute diverse Formen eines Philosophiezentrismus zu beobachten, deren Funktion darin zu bestehen scheint, das Politische und das Soziologische zwar nicht zu diskreditieren, aber doch von sich selbst abzuschirmen. Dies ist im Umfeld von Derrida eklatant [15] . Auch auf der Seite Adornos bzw. dessen Theorietradition ist dieser Analysestil beobachtbar; hier wären vorläufig Angehrn [16] und Braun [17] hervorzuheben. Der erstere weist in seiner bei Theunissen geschriebenen Dissertation Adornos Hegellektüre zurück, weil Hegel Adornos Programmatik selbst schon nachkomme; Braun weist den ganzen Adorno zurück, weil hier Kant seine Intentionen bereits erfülle. Sein Ausgangspunkt ist, mit Kant „die inneren Schwierigkeiten der Konzeption Adornos zu überwinden“ (p. 1), doch gehört auch zu den Prämissen bereits die „endgültige Entscheidung zugunsten Kants“, wie der Autor erst spät gesteht (p. 171). [18]

 

Was bildet das Gemeinsame dieser unzeitgemäßen Lektürestrategien, sowohl auf der Seite Derridas wie Adornos (das Affirmative gegenüber dem jüngeren und das Kritische gegenüber dem älteren trennen nicht wirklich)? Was ist ihr Recht? Kann von einem eigentlichen Recht auf Philosophie gesprochen werden, das jenseits von Geschichte, Ideologie und Soziologie stünde? Sicher ist, dass sie gegenüber Bourdieu Extrempositionen einnehmen, und Derrida selbst, der doch mehr noch als Adorno im Blickpunkt steht, ist von ihnen auszunehmen. [19]

 

Gondek schreibt in seiner ausführlichen Darstellung: „Vorrangig ist im folgenden die Frage nach dem Status des Derridaschen Philosophierens, die sich daraufhin zuspitzen lässt, ob es sich dabei um eine übersteigerte Transzendentalphilosophie oder aber um eine Destitution transzendentaler Ansprüche und eine Öffnung hin zu einem Empirismus oder gar um eine Kombination von beidem handelt. Damit rückt auch die Frage nach den philosophischen Traditionen in den Blick, an denen Derrida wie auch immer anschließt. (… ) Rodolphe Gasché, bei uns als Übersetzer von Derridas Die Schrift und die Differenz bekannt, geht das Derridasche Werk von vornherein strikt philosophisch an. Das beinhaltet nicht nur, dass er sich bestimmter Arbeiten Derridas gar nicht erst annimmt (… ), sondern vor allem, dass er Derrida in eine spezifische philosophische Problemtradition einschreibt, die auf den ersten Blick scheinbar keinen hervorragenden Bezug zu seinem Tun hat: die mit Kant einsetzende, im spekulativen Idealismus potenzierte wie auch überwundene und in den nachhegelschen Philosophien zerfallene Reflexionsphilosophie. (… ) Gasché bezieht sich ausdrücklich auf jene Autoren, auf die sich auch Manfred Frank (… ) [gegen Derrida] beruft: Hans-Georg Gadamer, Ernst Tugendhat, Dieter Henrich, Ulrich Pothast, Walter Schulz und Herbert Schnädelbach. (… ) In der Hauptsache legt Gasché eine systematische, originelle, hoch argumentative, doch verständliche und nachvollziehbare Darstellung und Begründung der Dekonstruktion als einer (meta)philosophischen Methodologie vor, die ein Verständnis für jene `Unentscheidbaren' herstellen soll, denen Derrida nicht mehr den Status von Begriffen zugesteht: différance, (Ur-)Spur, (Ur-)Schrift, Supplement, Hymen, remarque etc. Gasché behauptet ihre Systematizität, ihre Beschreibbarkeit als System – ein `System jenseits des Seins' oder ein `System von Infrastrukturen' –, wobei unter `Infrastruktur' eine Radikalisierung des `Struktur'-Begriffs zu verstehen ist, und zwar im transzendentalphilosophischen wie auch im empirischen Sinne. (… ) Gegen die strukturalistischen Implikationen des Strukturbegriffs – Totalität, Geschlossenheit, Zentrierung – soll mit dem Konzept der Infrastruktur De-Zentralität als Öffnung und Transzendentalisierung der Struktur vollzogen werden; Gasché spricht auch von einer `nichtregionalen und transzendentalen Öffnung'. Im Unterschied zur Struktur sind einer Infrastruktur folgende Eigenschaften zuzuerkennen: 1. ihr präontologischer und prälogischer Status (… ); 2. ihr synthetischer Charakter (… ); 3. ihre ökonomische und strategische Beschaffenheit (sie bildet ökonomische Synthesen = Arrangements aus).“ [20]

 

Sofern man tatsächlich beim Philosophiezentrismus, der selbstredend mehr umfasst als aus der zitierten Passage von Gondek herauslesbar ist, von einer „Position“ sprechen kann, wäre sie in gleichem Ausmaß falsch wie ihre Gegenposition, Bourdieu. Indem beide „ein Verständnis herstellen“ möchten für gewisse Momente des Realen – lose, nicht definitive Arrangements vs. Determinanten unfreier Verhaltensdispositionen – erwecken sie in der ausführlichen, wiederholten Arbeit den Eindruck einer Verfehlung des Realen. Bourdieus Irrealismus erwächst aus zuviel relativierender Ideologiekritik Mannheimscher Observanz, derjenige der „Philosophen“ aus einer neuartigen und geradezu seriösen Ignoranz hinsichtlich sozialer Abhängigkeiten. Da aber diesbezüglich weder die Wissenschaft noch eine historisch skizzierbare Realität einen dringlichen Zusammenhang abgeben würden, der vom Philosophiezentrismus thematisiert werden könnte, muss er sich notgedrungen die Frage stellen lassen, ob er durch unerbittliches Auslöschen der realistischen Momente nicht Ausdruck der herrschenden Unvernunft auch in der Philosophie sei. (Der Widerspruch zwischen der Aufhellung gewisser Momente des Realen und dem Auslöschen der realistischen Momente ergibt sich durch die Unterschlagung der Prämisse der Derridaschen Dekonstruktion, sich an fremden Texten abzuarbeiten.) Was wäre denn Notwendigkeit mehr als die rhetorische im eng gefassten philosophischen diskursiven Unterfangen [21] , einer Diskursivität, zu deren Zeichen es gehört, sich rigide abzukapseln? Obwohl es nicht um theoretische Wahrheit, nicht um Wissenschaftstheorie, ebenso wenig um Geschichtsphilosophie oder Gesellschaftstheorie zu tun ist, wuchert die Argumentation bis hin zum blendenden Schein, wie die Statistik im Empirismus den Gedankengang erstickt, der sie begrifflich fassen will. Der Philosophiezentrismus flunkert mit einem absurden Manierismus, der von seinen Verfechtern zuweilen auch eingestanden wird (im übrigen wie mir scheint nie frivol); seine konstitutive Ignoranz realistischer Seitenblicke lässt sich aber kaum kritisieren, einigermaßen stimmig wohl nur demonstrieren, weil die Möglichkeit grundsätzlich nicht zugeschüttet werden darf, Textkomplexe aus einem Voraussetzungssystem in ein anderes hinüberzuziehen, die Schrankenlosigkeit dieser „Arbeit“ aber auch jegliche Konsistenz der Vernunft verunmöglicht.

 

Nicht weniger aussagekräftig als die Autonomieansprüche gegenüber den Einzeldisziplinen der Wissenschaften ist, wie jede Korrespondenz mit der Musik unterbunden wird, was nicht als letztes auf einen gewissen elfenbeinernen Automatismus im kritischen Schreiben hindeutet, der sich um das Reale gleich wenig kümmern muss wie eine auf die „ursprüngliche Intention“ abzielende Hermeneutik. Es besteht ganz der Verdacht, dass man sich wohlig wie fälschlicherweise damit abfindet, dass die Geschichte der europäischen Musik in der Popmusik terminierte, das Gegenwärtige folglich sowieso aus nichts als Abhub bestünde. (Derridas Statements zur Musik vertragen sich mit keinem der etablierten Musikvokabularien; was in den Toden von Roland Barthes vorgetragen wird, ist falsch, das Ästhetische zu Monteverdi in der Postkarte richtet sich an dessen aufführungspraktischer Wiedergeburt in den siebziger Jahren aus, an der kulturindustriellen Konjunktur. [22] )

 

4. Vermittlung von absolutem Relativismus und „Autonomismus“

Wie ist die Ebene zu beschreiben und zu formalisieren, auf der gegen den Philosophiezentrismus argumentiert werden kann, nicht konkret und textimmanent, aber so, dass die Reklamationen Gestalt annehmen können? Sicher ist, dass er ein gewisses Recht in Anspruch nehmen darf, weil sachliche Fehler auf diese Weise ideal artikuliert werden können; ebenso sicher ist aber die Beschränkung dieses Rechts. Es geht nicht mehr, heute, den historischen Horizont philosophischer Fragen auszublenden; auch Begriffe sind in eine Stimmung (Habermas) eingelassen, über Konnotationen und Assoziationen. [23] Von Interesse ist aber nicht die Präzisierung der Schranke, sondern die Artikulierung der Argumentationsebene, des Argumentationsfeldes, eine Weise, wie der Autonomismus kontaktiert werden kann, ohne auch das Überalterte seiner Regeln übernehmen zu müssen. Hypothetisch, in experimentell-heuristischer Form soll dies als notwendige Hohlstelle bei Bourdieu beschrieben werden. Es gibt eine Ritze im Strukturbegriff Bourdieus, und wenn es gelingt, sie auf den Begriff zu bringen, und sei dieser noch so phantastisch, dann wäre so etwas hergestellt wie die Voraussetzung, mit welcher der Autonomismus mit dem Relativismus in eine Beziehung gesetzt werden könnte, die deren Existenzrechte nicht touchieren müsste. (Ohne die Annahme dieser Kluft wären die Vorzüge Bourdieus gegenüber Adorno recht schwer abzustreiten, und der Philosophiezentrismus wäre soweit von Belang, als er durch äußerst präzise Argumentation Fehlerstellen in Texten wiederherstellen würde, außerhalb dieser Wissenschaftlichkeit wäre seine Bedeutung nichtig, die Wirkungslosigkeit und Nichtkommunizierbarkeit desto unproblematischer: uninteressanter.)

 

In allgemeinster Form zielt die Frage nach der Vermittlung soziologisch nach der Akzeptanz und dem Recht auf soziale Performanz; sie lässt sich soweit treiben, bis ihre Momente sich in solche der Sozialversicherung auflösen, dort, wo der Sinn der Institutionen der Produktion nicht hinterfragt zu werden braucht, alles aber irgendwie – durch die Beitragsverpflichtung – gerechtfertigt erscheint.

 

In unserem Set theoretischer Positionen hätte man dann Adorno als Besonderheit zu nehmen. Bei ihm stellt sich die Frage nicht nach den Momenten, die dazu führen, dass seine Theorie nicht akzeptiert wird. Ungleich Bourdieu verfolgt er keine Lehre, sondern richtet sich an bereits Artikuliertem aus (und nur durch solches lebt sie weiter), in gewissem Sinne ähnlich wie bei Derrida. Trotz Verleugnung jedes Lehrcharakters wollen diese beiden auch wirken, eine Wirkung ausüben, keineswegs bloß archivarisch kommentieren. Ist ihre Intention oblique, so diejenige Bourdieus direkt, „empirisch“. Dadurch bringt dieser sich um das Beste, die Selbstkritik als Produktivkraft. Seine Arbeit ist nur noch um dieses Selbst besorgt, ohne Ausblick auf den Gehalt anderer Äußerungsmodalitäten, und dadurch lähmt sie es. Aus seiner Sicht ist von den Intellektuellen ebenso wenig zu erwarten wie von ihm selbst, soweit seine Intention ausschließlich, unbegrenzt und ohne Rückhalt auf die soziale Determination abzielt. Die Aussagen, auf die der kritische Soziologe aus Frankreich am meisten Wert legt, könnten auch von Polizeiaktivisten getätigt werden, weil sie alles tun, um die Koordinaten der sozialen Ordnung klar und distinkt erscheinen zu lassen, verschwindend wenig, ihre Fragwürdigkeit nicht vergessen zu lassen.

 

Wenn dem Entwurf nach im Zentrum der Lehre alle Begriffe Bourdieus relational und praxeologisch sind, so kann als erstes bereits in diesem methodologischen Feld der Strukturbegriff mit Adorno kritisiert werden – weil die Verdinglichung, Adornos „Bann“, fürs Reale konstitutiv wirkt, ist nicht alles in relationale bzw. dynamische Verhältnisse auflösbar. [24] Verbindlichkeit berücksichtigt Verdinglichung, und nur dadurch wirkt sie als deren Kritik. In seiner Methode verfolgt Bourdieu eine radikalisierte Relationalität, die wie die einstige „Praxisphilosophie“ ein romantisches Element enthält, indem sie Verhältnisse voraussetzt, die erst noch herzustellen wären.

 

Obwohl Derrida alles Dogmatische und Weltanschauungshafte denunziert, ist der von ihm abgezogene Philosophiezentrismus nicht frei von der Wiederbelebung der Idee der Theorie als Lehre. (Die Konstruktion der Ritze, das Öffnen der Kluft hat mithin die Aufgabe, das Problematische jeder Idee von Theorie als Lehre, die die Kritisierbarkeit verunmöglicht, in der Form einer ökonomischen Reserve artikulierbar zu machen, methodologisch vorläufig natürlich gänzlich unfestgelegt.) Derridas philosophische Arbeiten folgen einem Programm – dekonstruktive Darstellung metaphysischer Tendenzen in Texten – das in keinem geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang abgestützt ist und deshalb als verallgemeinerter Dekonstruktivismus leicht lächerlich wird, wenn dieser als Politik (Menke) oder als Denken (García Düttman) stilisiert wird. [25] Verzichtet man auf diese zwei mehr modischen als praktischen, desto weihevolleren Stilisierungen, die der Idee der Lehre Vorschub leisten, so heißt das nicht, dass in seinen Texten nur simpel schlüssig-schlüsselfertige Resultate zu suchen wären, auch nicht, dass sie als unpolitisch oder regressiv politisch zu tadeln wären. Wie der Effekt ihrer Lektüre nicht bündig zu fassen ist, weil das Metaphysische als Ethnozentrismus in den Texten, ihrem Stil, ihrer Rhetorik und Kombinatorik als Problem nicht abzuschließen ist, enthalten sie eine gewisse politische Stoßrichtung, eben wieder durch die besondere Bedeutung des Begriffs der Metaphysik, der aber, wie gerade Derridas Aufsatz im Sammelband Haverkamps irritierend genug zeigt, durchaus auch krude Wege nehmen kann, um nicht zu sagen, bezugnehmend auf diesen Text, „verantwortungslose“. (Durch die Leseerfahrung abgesichert, möchte ich die Hypothese wagen, dass Derridas Texte immer da – und nahezu ausschließlich da – fragwürdig werden, wo die Distanzierung vom Heideggerschen Fragepopanz misslingt.)

 

Selbstverständlich gibt es auch auf der Seite Adornos Interpreten, die die Texte als Form eines Denkens begreifen. Erinnert sei nur an Wellmer, dessen Kritik gänzlich an dieser Voraussetzung mangelt. [26] Wie Habermas kritisiert er die Überspanntheit der Radikalität in der Vernunftkritik, die in eine Aporie münde, weil sie kritische bzw. selbstkritische Elemente der sprachlichen Vernunft übersieht, um so mehr dadurch einem metaphysischen Theologismus gegenüber offen werde. Distanziert man sich aber vom Begriff des Denkens zugunsten des neutralen von der Theorie in der Geschichte, dann lassen sich auch eher Konzepte in Adorno hineinkonstruieren, deren Vergleichbarkeit schon Indiz sein kann für ein Ende der Abschottung vor der Idee der Falsifikation.

 

5. Vermittlung mit Adorno

Nimmt man Adorno schärfer ins Blickfeld, so ergeben sich drei Positionen bezüglich den thematisierten Feldern oder Interessengebieten, wo dessen Stärken nicht a priori festgelegt sind: Im Philosophiezentrismus werden die diskutierten Probleme in absoluter Autonomie begriffen, und das Philosophieren wird als Denken verstanden, das auch nicht zögert, historisch überlebte Prämissen wieder zurückzurufen, um nur ja die Argumentationsdichte bezüglich irgendeines Textes aufrechterhalten zu können. Bei Adorno halten die einzelnen Gebilde – Kunstwerke, Theorien, psychische Dispositionen – den Status einer relativen Autonomie inne, und die Theorie ist nicht gänzlich in die Praxis eingelassen, sondern enthält, distanzierend, das Moment der geschichtsphilosophischen Deutung, den ethnozentrismuskritischen Blick auf die Realität als ganze Geschichte. Bourdieu (auch Benjamin nach Buck-Morss [27] ) setzt die Gebilde in eine absolute Heteronomie, und die Soziologie wird als Wissenschaft der falschen Idee interesseloser Theorie durch die Intellektuellen entgegengesetzt. Er verleugnet insbesondere, dass Gebilde mit einer theoretischen Relevanz in ihrer Genese eine gewisse Autonomie, einen gewissen autonomen Rationalismus haben müssen, um überhaupt entstehen zu können. Nur Unverbindliches lässt sich absolut und bis ins Letzte gehend soziologisieren. [28] (Die Autonomie ist recht schwierig zu beschreiben: ein einzelnes künstlerisches Produkt erhebt selbstredend den Anspruch auf Singularität, eine historisch einzigartige Denkweise kann als Effekt der Erfahrung des Materialstandes scheinbar singulärer, unabhängiger Werke nachvollzogen werden.)

 

Mangelt es den zwei exklusiven Programmen an Realismus, weil sie über ihr Ziel hinaus ins Leere laufen, nicht zuletzt daran ablesbar, dass sie Adorno als blinden Fleck enthalten, der sich in ihnen nicht thematisieren lässt, so lassen beide sich durch ein Konzept – dasjenige der Ankersteine – verknüpfen, das sie zwar kritisiert, ihnen gerade dadurch aber auch eine neue Wirksamkeit auf realistische Weise zu Grunde legt, ein Netz von Aufmerksamkeiten, das die unsinnigen Abschreckungen ihrer Verstiegenheiten aufzufangen vermag.

 

Man ist noch nicht auf einer realistischen Position, wenn diese funktionstüchtig und verwendbar ist, um empirische Gegebenheiten zu strukturieren. Die hier versuchte Kritik ist theoretisch und kann keineswegs das Ziel verfolgen, eine Position auszuarbeiten, die sich praktisch besser verwerten ließe. Der Untersuchungsgegenstand und die Methode seiner Erhebung können bekanntlich im Falschen konvergieren: in der Verdinglichung. Das Reale, um das es dem Realismus in diesem Zusammenhang geht, übersteigt die Verdinglichung, um die es aber – um die Ankersteine – zentriert ist. Man kann diese nicht „erheben“ (auch wenn es gelingen sollte, sie zu enträtseln), sondern sie sind die Grenze, die gewisse empiristische Positionen, die die individuelle Rationalität in ihrer Autonomie verleugnen, als falsch erkennen lässt.

 

Das Gesamt der drei „Positionen“ bezieht diese nicht aufeinander. Sucht man dennoch ein Beziehungsverhältnis, so gibt es in dieser Frage kein entscheidbares Allgemeines, kein klar erfassbares und distinkt beschreibbares Thema; das Problematische, das darin besteht, dass sich die drei fliehenden Perspektiven eben auch nicht trennen lassen, funktioniert wie eine psychoanalytisch begleitete Erinnerung. Wenn es erlaubt ist, den Schematismus der Namen Adorno–Bourdieu–Derrida aufzubrechen, lässt er sich auch wie folgt in einer Formelsprache fassen: Bourdieus Favorisierung des Begriffs des sozialen Kapitals gibt der Unmöglichkeit verbindlicher Theorie und verbindlicher Kunst Form; die Favorisierung der Unentscheidbaren im Derridismus formt die Bedingungen der Unmöglichkeit von Theorie überhaupt; die Favorisierung der Gebilde mit Werkcharakter thematisiert in einem letzten Schritt die Bedingungen der Unmöglichkeit der Selbstkritik, oder positiv die Bedingung der Möglichkeit der Rationalisierung im Sinne der Willkür der Auswahl und der Mechanisierung der Struktur genehmer Themen, die Zentrales, Gewichtiges und Entscheidendes ausspart, die Bedingungen der Möglichkeit der Versteinerung des intentionalen Bewusstseins durch Verlustierung, Überspielung und Ridikülisierung der Gegenwartsbezüge.

 

Sollen diese quasi-transzendentalen Positionen also nicht isoliert stehen bleiben, ergeben sich folgende problematischen Vermittlungsstrategien, die im übrigen weiter ergänzbar wären: 1. Bourdieu lässt sich nicht in den Philosophiezentrismus hineinschleusen, weil er nur am Nachweis interessiert ist, wie alles, was einen sozialen Sinn abgibt, durch die soziale Praxis konstituiert wird, die wesentlich als streithafte Gier nach Prestige gesehen wird; diese Positionen bilden ein exklusives Verhältnis. 2. Möglich scheint es, Bourdieu mit Adornos Theorieverständnis zu kontrastieren; diese Haltungen ergänzen sich. 3. Der Philosophiezentrismus kritisiert Adorno aufs Ganze, ohne Vermittlungsabsichten; kritisiert umgekehrt diese Position den Philosophiezentrismus, so ergibt sich nichts Neues. Der Letztere ist dem Adornoschen Ansatz – im formellen Sinn – subsumierbar, ohne Konsequenzen. 4. In Anlehnung an den Philosophiezentrismus scheint es möglich, als oben genannte Hohlstelle einen Unbegriff Bourdieu entgegenzuhalten, wie er als Ankerstein nach ein paar Bemerkungen zu Adorno favorisiert werden soll.

 

Da bei dem, was man mit mehr oder weniger ausgewiesenem Recht kritischen oder Neostrukturalismus nennt, sowohl die Eindeutigkeit des Sinnes wie der ontologischen Fixierung des Strukturbegriffs verlorengegangen ist, kann auch bei Adorno mit diesem Begriff operiert werden, ohne ihn dadurch in die Nähe jener Bande rücken zu müssen. Ist das erlaubt, so lassen sich mindestens zwei Strukturbegriffe präzise festhalten. Der erste wurde insbesondere vom jungen Adorno anvisiert, der zweite vom älteren. Liegt beim ersten die Struktur gänzlich im Gebilde, das gedeutet wird, so im zweiten (der das Produkt ist des Versuchs, den ersten verbindlich zu machen) im sozialen Antagonismus, wie er in der Ware erscheint und schließlich allen Gebilden sich so vorordnet, dass sie nur dann noch sinnvoll, in konstruktiver Kritik gedeutet werden können, wenn das, was die Warenstruktur provoziert, überwunden sein wird. (Liest man die Ästhetische Theorie auf dem Hintergrund des programmatischen Vortrags Die Idee der Naturgeschichte, AGS 1, so ergibt sich ein dritter adornospezifischer Strukturbegriff, der den Pessimismus des zweiten nicht wenig lockert, dessen Behandlung aber das gestellte Thema zu arg spalten würde. Er ist für den Autor Adorno insofern von ausschlaggebender Bedeutung, als er ihm ermöglicht, die artikulierte Deutung auch dann weiterzuverfolgen, wenn eigentlich die Formel immer im Vordergrund stehen müsste, vor aller Deutung hätten die Verhältnisse sich zu ändern.)

 

Der erste Strukturbegriff gehorcht einer Logik des Zerfalls, wie die Formel noch in der Negativen Dialektik eingesetzt wird. Der Zerfall bezieht sich nicht auf die Geschichte tel quel, sondern auf das von Benjamin entliehene Theologoumenon einer nur einmal geschöpften Ursprünglichkeit des Sinnes, der, allein wegen dieser Einmaligkeit, alles Sinnhafte in der Geschichte zu Bruchstücken zerfallen lässt. Folglich verfehlte eine Deutung, die hermeneutisch auf ein Ganzes und Letztes eines gegebenen Gebildes aus wäre, dieses gänzlich – es ist ihm a priori das Moment des Unwahren zu eigen. Doch betrifft dies nicht nur das Erkenntnisobjekt; auch die Erkenntnismittel sind vom Zerfall affiziert, soweit sie nicht nominalistisch kontingent sind, sondern in ihnen eine gewisse geschichtliche Erfahrung sich hat sedimentieren können. Zudem ist auch der Akt der theoretischen Deutung der Geschichte angehörig, so dass nicht nur das Gebilde und die Begriffe einen Zusammenhang bilden, sondern auch diese beiden Momente mit der konkreten Subjektivität des Sprechenden, Deutenden, Kritisierenden, Erkennenden. Der eigentümliche Strukturbegriff des jungen Adorno ist also einerseits gänzlich in einem isolierbaren, von Menschen geschaffenen Gebilde vorgelagert, das einem der Bereiche Theoriegeschichte (Philosophie, Wissenschaft), Politikgeschichte (Ökonomie, Macht, individuelle und körperlich-psychische Disziplinierung) oder Kunstgeschichte (Kultur, Künste) angehört; andererseits handelt es sich um eine offene Struktur, weil sie durch den Deutungsprozess in die Geschichte eingelassen ist, also in einem Zusammenhang steht mit den Begriffen und dem Ort der Erkenntnis. Der Erzeugungsbereich der Begriffe ist ausschließlich die Wissenschaft, was bei jeder Deutung eine Bezugnahme auf den Stand der Wissenschaften voraussetzt, auch in den Künsten, auch bei alten Gebilden. Denn die Erkenntnis bezieht sich nolens volens auf den Ort ihres Aktes – soll er an Realismus nichts einbüßen, so hat er sich letztlich auch auf das gesellschaftliche Umfeld zu beziehen, in dem er geschieht. Das Produkt der Deutung ist dann eine Bewusstmachung, deren Subjekt sowohl allgemein wie individuell sein kann, und er löst eine nichtgerichtete Änderung nicht nur in Hinsicht auf das Gebilde aus, sondern auch auf die Begriffe und die Verhältnisse, in denen die Deutung geschieht. Entscheidend ist, dass die soziologische Forschung ein historisches Fachwissen der betroffenen Disziplinen voraussetzt, zugleich die konkreten Fragen aber strikt auf eine allgemeine, aufs höchste problematisierte Gegenwart bezieht; je abstrakt-individueller, thematistisch eingeschränkter diese gefasst wird, desto weiter entfernt sie sich von der methodologischen Intention des jungen Adorno, weil der „Vorrang des Objekts“, eine Prämisse des alten mit kaum geschwächter Gültigkeit für den jungen, dadurch unterlaufen würde (das Vokabular des jungen Adorno war insofern subjektiv und unkontrolliert, als es großenteils dem Expressionismus entstammt).

 

Abgesehen von der akademischen Antrittsvorlesung vom 7. 5. 1931 mit dem doppelsinnigen Titel Die Aktualität der Philosophie (AGS 1), der dem Referenten erlaubte, sich sowohl von den philosophisch-soziologischen Strömungen der Gegenwart abzusetzen wie programmatisch, um es lapidar auszudrücken, die Gegenwartsbezogenheit der theoretischen Artikulierung hervorzuheben, hat Adorno nie einen Text verfasst, der dieses Konzept einigermaßen distinkt offenlegen würde – seinen materialen Analysen bis in die dreißiger Jahre gelang aber die Anhäufung eines Schatzes, dessen methodologischer Wert nur endlich gehoben zu werden braucht. [29] Für Adorno selbst war die Offenlegung deshalb nicht vordringlich, weil er von der Hälfte der dreißiger Jahre an gänzlich darum bekümmert war, das, was er bis anhin als sein eigenes Verfahren praktizierte, in eine verbindliche Form zu bringen, das Konzept des ersten Strukturbegriffs in die Theorie des zweiten hinüberzuführen.

 

Doch ist das Programm der Logik des Zerfalls des ursprünglichen Sinnes in der Struktur der Gebilde nicht auf die philosophische bzw. soziologische Methode der Deutung eingeschränkt, sondern erhebt in vereinzelten Wendungen auch den Anspruch, das rationale Verhalten des Alltagsmenschen zu beschreiben. Das erlaubt die Übergangsfrage in der Konstruktion, ob es bei Adorno Passagen gibt, die historisch-empirisch zu beschreiben versuchen, wie diese Deutungskraft nicht nur in jenen Disziplinen nicht recht zum Zuge hat kommen können, sondern im Diffusen des allgemein Gesellschaftlichen einmal zumindest in Ansätzen da war, dann aber zu verschwinden begonnen hat.

 

Was hier durch nominalistische Konstruktion als Ankerstein etabliert wird und als Phänomen mehr als nur Sprachliches bezeichnet, konnte erst im Zeitalter der Dialektik der Aufklärung sich ankündigen, in dem der Nominalismus auf das Sprachbewusstsein bzw. den Sprachgebrauch überhaupt prägend zu wirken begann. Wenn die Worte nur noch bezeichnen, also von Phantasmen und listigen Undeutlichkeiten bereinigt sind, wirken diejenigen Urteile, die man als Meinung für richtig hält, um so unbefragbarer auf das subjektive, alltägliche Bewusstsein. Adorno und Horkheimer schreiben Mitte der vierziger Jahre: „Hatte das Wort vor seiner Rationalisierung mit der Sehnsucht auch die Lüge entfesselt, so ist das rationalisierte zur Zwangsjacke geworden für die Sehnsucht mehr noch als für die Lüge. Die Blindheit und Stummheit der Daten, auf welche der Positivismus die Welt reduziert, geht auf die Sprache selber über, die sich auf die Registrierung jener Daten beschränkt. So werden die Bezeichnungen selbst undurchdringlich, sie erhalten eine Schlagkraft, eine Gewalt der Ahäsion und Abstoßung, die sie ihrem extremen Gegensatz, den Zaubersprüchen, ähnlich macht. Sie wirken wieder als eine Art von Praktiken, sei es, dass der Name der Diva im Studio nach statistischer Erfahrung kombiniert wird, sei es … „ Und etwas weiter: „Unzählige gebrauchen Worte und Redewendungen, die sie entweder überhaupt nicht mehr verstehen oder nur ihrem behavioristischen Stellenwert nach benutzen, so wie Schutzzeichen, die sich schließlich um so zwangshafter an ihre Objekte heften, je weniger ihr sprachlicher Sinn mehr erfasst wird.“ [30]

 

Akzeptiert man den Wechsel Adornos vom ersten zum zweiten, d. h. verbindlichen Strukturbegriff, so sieht man, dass sich auf ihrer Schnittfläche eine diffuse, weit dehnbare Zone breit macht. Die Gebilde, die sich hier, jenseits des offenen und jenseits des pessimistischen Adorno niederlassen und konkretisieren, geben den Anschein, noch deutbar zu sein, funktionieren aber bereits rein mechanisch, das heißt so, als wären sie handelbare Waren. Wären sie auf dem Feld des ersten Strukturbegriffs, wären sie kommunizierbar, kritisierbar; wären sie auf dem des zweiten, so wären sie als Waren konkurrenzierbar – hier befinden sie sich in einem außergesellschaftlichen Raum. Wenn es aber legitim ist, bei Adorno von zwei Strukturbegriffen zu sprechen, so ist das, was thematistisch hier vorgeschlagen wird nichts, das gänzlich außerhalb seines Entwurfes, gänzlich außerhalb der negativen Dialektik zu stehen hätte. Die Ankersteine gehören weder zur Intention des jungen noch des alten Adorno – aber sie lassen sich da platzieren, wo er in seinem Denken einen Wandel vorerst gar nicht präzise hat wahrnehmen können. [31]

 

In einem klassischen System der Aufklärung, dem Kants, sind die Ankersteine ein negativer Partikel der Urteilskraft, einigermaßen verständlich dann, wenn diese als Intelligenz konzipiert wird, die die theoretische mit der praktischen Vernunft verknüpft. Zunächst eine Stelle, die ihren Wirkungsort eher der empirischen Psychologie zurechnet denn als ein Bestandteil der Urteilskraft sehen will: „In (der) Modalität der ästhetischen Urteile, nämlich der angemaßten Notwendigkeit derselben, liegt ein Hauptmoment für die Kritik der Urteilskraft. Denn die macht eben an ihnen ein Prinzip a priori kenntlich, und hebt sie aus der empirischen Psychologie, in welcher sie sonst unter den Gefühlen des Vergnügens und Schmerzens (nur mit dem Beiwort eines feinern Gefühls) begraben bleiben würden, um sie, und vermittelst ihrer die Urteilskraft, in die Klasse derer zu stellen, welche Prinzipien a priori zum Grunde haben, als solche aber sie in die Transzendentalphilosophie hinüberzuziehen.“ [32] Dann aber können die Ankersteine als diejenigen ästhetischen Urteile gefasst werden, die auf teleologische keine „Rücksicht nehmen“; ein solches Urteil wäre imaginär (Lacan) bzw. verdinglicht. Kant schreibt (p. 247; B 198, A 186f): „… das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur Grundlage und Bedingung, worauf dieses Rücksicht nehmen muss. In einem solchen Falle denkt man auch, wenn z. B. gesagt wird: `das ist ein schönes Weib', in der Tat nichts anders, als: die Natur stellt in ihrer Gestalt die Zwecke im weiblichen Baue schön vor; denn man muss noch über die bloße Form auf einen Begriff hinausgehen, damit der Gegenstand auf solche Art durch ein logisch-bedingtes ästhetisches Urteil gedacht werde.“ Dass Kant für diese mangelhaften Urteile, die, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie immer wieder erinnert, sich nicht auf ein Seiendes beziehen, keinen Namen erfand, ist vielleicht der Grund dafür, dass ihre Wirkungsweise so lange nicht zum Begriff hat kommen wollen. Kant zertrümmert dieses Phänomen dadurch, dass er es dem Prinzip des Geistes bzw. der Geistlosigkeit unterstellt, das heißt dem Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen (p. 249f). Das bedeutet: Es soll nicht nur ein Etwas als ein Ganzes ästhetisch benannt, sondern auch in seiner strukturellen Situierung, d. h. im teleologischen Zusammenhang erkannt werden. Wird diese Forderung der intellektuellen Redlichkeit ignoriert, entfalten sich die Wirkungskräfte der Ankersteine, der ästhetisch-ganzheitlichen Behauptungen ohne adäquaten Bezug auf Seiendes.

 

6. Das Regressvokabular und die soziale Reproduktion

Auf dem zusammengestückelten Hintergrund wird derselbe als thematisierte Theoriekonstellation dann lesbar, wenn der Hypothese Raum gegeben wird, wonach nicht Ideologien, Weltanschauungen und psychotische Imaginerien bzw. Verdinglichungen (z. B. der Eitelkeitstrieb, das Ressentiment und das Prestigeverlangen) als Grundsteine fürs falsche Bewusstsein und den allseitigen Communication Breakdown (Popgruppe Led Zeppelin) anzusehen sind, sondern individuell abgestimmte, im allgemeinen nicht bekannte Ankersteine, die aus den Wissensbrüchen sämtlicher bekannter Gebiete und Regionen (meistens aus ökonomischen Gründen Religionen) herausgeschlagen wurden; wie Platon im Höhlengleichnis explizit festschreibt, besteht ihre Funktion darin, den Hals eisern festzuhalten, so dass es objektiv unmöglich wird, durch keine diskursive Kritik beeinflussbar, den Blick für andere Horizonte freizubekommen. Je stärker die Verankerung, desto evidenter ist es für die isolierten Einzelnen, dass sie störenden Fragen nach Verbindlichkeit nicht nachzugeben brauchen. Realistischer als die Ausrichtung auf die Produktionsverhältnisse klassen- bzw. feldspezifischer Bewusstseine ist die Annahme eines ursprünglichen Verbleibens im Sumpf der Dialektik von kritischem Schein und ewig-wiederkünftiger Dogmatik, fern allen abenteuerlichen Impulsen negativer Dialektik, um so näher den Zügen der autoritären Rebellion.

 

Über diesem quasi-mythischen, außergeschichtlichen Boden, der aus ökonomischen Gründen nicht empirisch beschrieben werden kann – zu viele Ankersteine wegen zu vielen halsstarrigen Individuen – können verbindliche Theorieproduktionen in einem Raum relativer Autonomie bezüglich dem Alltagsverstand oder dem politischen Wissen geleistet werden, vermittelbar in Schulen und ähnlichen Institutionen, die – und das ist gänzlich jenseits des Wirkungshorizonts der Bourdieuschen Methodologie – daraufhin bewertet werden sollen, wie sie dieses Wissen, das Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt, vermitteln. (Bourdieu kann deshalb die Schulen kritisieren, ohne ihre Zielsetzungen inhaltlich in Frage zu stellen, weil er es vermeidet, die verschiedenen Instanzen der Bildungsreproduktion miteinander zu verknüpfen; ihr Fatales liegt nicht in der Reproduktion der sozialen Felder, sondern in der allgemeinen Verleugnung des selbstkritischen Potentials, weil in ihm kein Verfahren bereitstünde, das auf die ökonomische Verwertung zentriert wäre, die unablässige Steigerung von Effizienz.) Der kritische Ort dieses Realismus sind also weder die Wahrheit der einzelnen Gebilde noch die Ankersteine, sondern die Institutionen, die jene Gebilde zu vermitteln haben. Das ist soziologisch traditionell, mit der eher massigen Nuance, dass eine Trennung zwischen den Objekten der Vermittlung und ihren Instanzen, wie sie bis heute im Forschungsprozess geleistet wird, methodologisch zu unterbinden wäre.

 

Nach der negativen Ontologisierung der Ankersteine – nicht im Sein, in der Geschichte, der Sprache, dem Unbewussten, den Gruppen etc. – können dem kruden Status entsprechend lose Notate das Wirksame wie der Evidenz Entrissene des Phänomens am ehesten vielleicht einzufangen versuchen.

 

a) Individueller Habitus. Sehr nah der Konzepte des Regressvokabulars und der Ankersteine steht Bourdieus Begriff des individuellen Habitus. Doch ist der entscheidende Unterschied zwischen Habitus als „Programmierung“ der Scheinindividuen und dem Regressvokabular der, dass dieses Handlungen, die aus einer sozialen und intellektuellen Notsituation führen würden, verhindert, jener sie produziert, indem er sie als objektiv notwendige strukturiert.

 

b) Ideologie. Das Konzept der Ankersteine ist supplementär zu dem der Ideologie und der Standpunktbezogenheit des produzierenden Subjekts; es ersetzt dieses nicht, und es löst keine seiner Schwierigkeiten (Wahrheitsanspruch des kritisierenden Subjekts, Objektivismustendenz, Dichotomie von Vorstellung und Vorgestelltem, soziale Repräsentation). Es ist ein bloßer Zusatz, der vornehmlich eine bestimmte Stelle im Realismus Bourdieus neu besetzen soll.

 

c) Ortloser Bezug. Die Ankersteine sind jenseits vom Pathologischen, Sozialen und Metaphysi­schen, aber strikt darauf zentriert.

 

d) Unbegriffe, Unentscheidbare. Wie durch Gondek erfahren, führt Gasché einen Neologismus ein, der gewisse Ausdrücke von Derrida, die nicht mehr den Status von Begriffen einnehmen, zusammenfasst; er nennt ihn die Unentscheidbaren. Es sind dies unechte „Begriffe“ mit einem soge­nannten quasitranszendentalen Anspruch, der darin besteht, sowohl die Bedingungen der Mög­lichkeit wie die Bedingungen der Unmöglichkeit gleichermaßen auszudrücken. Die Frage ist in unserem Zusammenhang, ob die Unentscheidbaren – also Ur-Spur, Differance, Supplementarität, Iterierbarkeit etc. – als in der Theorie funktionierende mit den Ankersteinen im empirischen Bewusstsein vergleichbare Strukturmomente bilden. Beispiele von Worten, die zugleich als Anker­steine wie als Unentscheidbare funktionieren können: Geist, Ichbewusstsein, Verwirklichung (technische Funktionalität und Selbstverwirklichung), Eigentlichkeit, thematische Abgeschlossen­heit, das Selbst als die Idee des Subjekts, das sich selbst auf sich bezieht als einem transparenten Selbst. [33] Die Regressvokablen ermöglichen nichts und sind nicht einmal quasi-transzendental, in­dem sie gleichzeitig die Bedingungen der Unmöglichkeit ausmachen würden. Das unterscheidet sie von den Unentscheidbaren. Eher sind sie noch quasi-pathologisch, weil sie in ihrer abgeschlos­senen Konsistenz nicht falsch sind, die Kooperation zur Deutung des Realen aber unterbinden. – Dagegen sind die Unbegriffe Brocken, die aus dem dekonstruktiven Programm herausgeschlagen, isoliert und verdinglicht wurden. Sie sind dem Dekonstruktivismus gehörig, nicht Derrida, der notwendigerweise, um die Idee der Lehre zu unterlaufen, auf Texte rekurriert.

 

e) Kein allgemeiner Status. Ähnlichkeit mit den Unentscheidbaren haben die Ankersteine auch darin, dass sie mehr in Infrastrukturen eingelassen sind als in eigentliche Strukturen. Infrastruktu­ren sind dadurch ausgezeichnet, dass ihre Wirksamkeit nicht allgemein vorausgesetzt werden kann, auch wenn ihre Elemente stabil bleiben sollten. Der Magen wäre eine Infrastruktur: Wenn einer zu verschiedenen Zeiten dasselbe isst, kann der Magen unterschiedlich funktionieren, weil seine Kon­stitution auch abhängig davon ist, wie er in der mittelfristigen Phase vor der bestimmten Essens­einnahme behandelt worden ist, durch Sauf- und Fressgelage oder neopauperistische Abstinenz, wie sie der intellektuelle Überlebensversuch zur Folge hat.

 

f) Temporale Stabilität I. Die Infrastruktur des Regressverbariums kann sich zu irgendeinem Zeitpunkt bilden und von da an wirksam werden; erst von diesem Moment an lässt sie sich begreifen. Ihre Genese ist willkürlich, der Zeitpunkt ihrer Bildung in keine weitere Struktur eingeschrieben. Ankersteine sind als weder ideologisch, psychisch noch metaphysisch determiniert anzusehen; denn ihre Wirksamkeit lässt sich in allen Domänen verfolgen. Ebenso wenig sind sie thematisch-semantisch eingrenzbar. Wann aber zerfällt eine Infrastruktur? Es gibt keine kurzlebige, flüchtige Ankersteine, weil sie von den korrigierbaren, bestreitbaren, artikulierbaren Vorurteilen unterscheidbar sind, wenn sie auch deren Formen zeitweilig annehmen können. Der unbeirrbare Zug an ihnen ist wesentlich. Gibt es unterschiedliche Formen der Trotzköpfigkeit?

 

g) Temporale Stabilität II. Dass das Konzept des Regressvokabulars keine große Reichweite hat, sieht man daran, dass es auf Wahl- und Abstimmungsverhalten nicht anwendbar ist; es setzt diejenige Dimension nicht außer Kraft, die die politische Einstellung als ganze betrifft. Das Konzept ist sowohl begrenzt auf einen Hohlraum, als es auch selbst eine Kluft bildet innerhalb des strukturalen Marxismus.

 

h) Instabiler Status. Die Ankersteine sind nichts, das sich durch gewisse Techniken wie das surrealistische automatische Schreiben oder sonstwie Psychoanalyse-Ähnliches hervorlocken ließen. Bezüglich des analytischen Zugriffs verhalten sie sich awkward, aber nicht im abschätzigen Sinn von „nicht analysierbar“, sondern als Regulativ für den allemal überbordenden Erkenntnisoptimismus in der Theorie.

 

i) Rationalisierung. Im psychoanalytischen Bereich gibt es die Funktion der Ankersteine, gewisses Verhalten zu rationalisieren, ohne dass sie – als der eigentliche Grund – genannt würden. Sie sind dann verpönte Wünsche, die überlagert werden und so eine persönlich-rationale Offenheit nicht mehr zulassen.

 

j) Negative, unsichtbare Ankersteine. Es gibt nicht nur Ankersteine, auf die das Bewusstsein fixiert ist, sondern auch deren Negative, die den Drang haben, unter keinen Umständen bewusst zu werden. In Joyces Wort „Shoppinhour“ aus dem Finnegans Wake ist nicht nur Schopenhauer, sondern auch Chopin, also das zumindest partiell fragwürdige Musikverständnis des Autors enthalten, das der Bewunderer despektiert und in jenem Wort folglich nicht sehen will. Die negativen Ankersteine verhalten sich wie Schwarze Löcher des Bewusstseins; dieses wird durch sie abgetrieben, ohne dass das Falsche überhaupt in Erscheinung treten müsste. – Ein besonderer ist der Anker des Militärischen, indem er die ganze Menschheit zu versenken droht; nach wie vor scheint er unbenennbar.

 

k) Sprechverbot I. Die Verankerung blockiert die Artikulierung, die Durchartikulierung und Durchbildung des theoretischen Gebildes. Das negativ Moralische blockiert die Theorie zu Gunsten blinder Alltagspraxis.

 

l) Sprechverbot II. Eine wichtige Funktion der Regressvokabeln besteht im Verhindern der substantiellen, materiellen Auseinandersetzung mit Theorien. Diese werden wie bloße Erzählungen konsumiert, oder – bei Bourdieu – wie Konsumangebote inventarisiert. Was verhindert wird, ist die immanente Kritik und das, was zu dieser gehört: die begriffliche Wiederholung des Kritisierten.

 

m) „Sprechverbot“ III. Das Konzept der Ankersteine erklärt generell die Ablehnung von wahren, deutbaren Gebilden, nicht nur von Theorien. Das ist auch der Grund, wieso das Regressvokabular nicht auf Wörter reduzierbar wäre, effektiv also aus allgemeinen, translinguistischen Bausteinen besteht.

 

n) Gewöhnliche Kategorien. Einfache Formel: Im Philosophiezentrismus ist ein Ankerstein das Wort Philosophie; bei Bourdieu das Wort Kapital. Seine Schwierigkeiten entstammen der Überreizung des kampfanalytischen Ansatzes, die mit der Intention der Kritik aller Soziodizee aus derselben Gesellschaft ein provinzielles Gesellschaftsspiel zu machen droht. Bourdieus Strukturalismus schwankt zwischen der Gesellschaft als einem Spiel um Prestige und einem immer schon gerechtfertigten Ordnungsfaktor legitimer und illegitimer Gebilde.

 

o) Idées fixes. Es besteht, in Absehung der individualpsychischen Disposition, die im Wirkungsfeld der Ankersteine nichts Krankhaftes hat, eine Nähe zu den fixen Ideen.

 

p) Urteilsannahme. Wenn eine Aussage ankommt, verankert sie sich auch, ohne einen Balken errichten zu müssen, der deren Kritik verunmöglichen würde. Sie vergisst nicht, sondern eröffnet erst einmal – kann dann aber zum schlechten Ankerstein werden.

 

q) Keine Meinung. Es gehört zum Definitionsversuch der Ankersteine, dass sie nicht zu den falschen Meinungen gerechnet werden dürfen, weil diese sich immer in ein mehr oder weniger geschlossenes System integrieren lassen, das letztlich aus einem sozialen Zusammenhang abgeleitet werden kann. Das Werk Bourdieus ist ein solches Ableitungssystem. Dagegen formiert das Regressvokabular einen erkenntnistheoretischen Block, eine nicht beherrschbare, aber in Acht zu nehmende Grenze der Wissenschaft.

 

r) Keine Privatsprache. Und wie sich die Ankersteine dem Bereich der Meinung entziehen, bilden sie auch keine Privatsprache, sie sind keine Winkelwörter, pas des mots anglais. [34] Sowenig sie einem psychischen Defekt zuzuordnen sind, der nur eine verschlüsselte Sprache duldet, sind sie es der künstlerischen Produktion, wie man sie beim späten Joyce und den Etymergüssen Schmidts vorfindet und von der es heißt, dass sie keine Lüge enthalte. [35]

 

s) Keine Dummheit. Innerhalb eines institutionalisierten Unterrichtszusammenhanges, mit einem bestimmten Lehrprogramm, kann man nicht von Regressvokablen sprechen, die die Lernfähigkeit erschweren würden. Denn von den formlosen Formen der Dummheit und Faulheit lassen sie sich gut abgrenzen, weil sie etwas Spezifischeres meinen, das im individuellen Feld durchaus artikuliert wird.

 

t) Keine Ideologeme. Die Elemente des Regressvokabulars sind einzelne Ausdrücke – Ankersteine – an denen die Individuen sehnlichst hängen; sie sind nicht als Effekte von Ideologie beschreibbar und sind keine Ideologeme, haben selbst aber gerade den Effekt, realistische Konzepte abzuschirmen.

 

u) Soziales Band I. Es gibt ein soziales Band, das die Regressvokabeln in einer gewissen, d. h. analysierbaren Notwendigkeit miteinander verknüpft. Es hat sowohl eine Oberflächen- wie eine innere Struktur, die unabhängig von einander eine konstitutive Wirkung ausüben, und zwar aufs Individuum. Die Wirkung selbst ist nur insofern gesellschaftlich, als sie realistische bzw. progressive – also nicht-mythologische – Gebilde abwehrt. Deswegen kann entweder das Thematische der Ankersteine im Vordergrund stehen oder die Abwehr realistischer Einschätzungen. Eine Transzendentalität der Knotenpunkte lässt sich nicht beschreiben, folglich weder eine rein formale noch eine substantielle „Strategie“ gegen diesen Wirkungszusammenhang entwerfen.

 

v) Schlechte Moral. Die Regressvokablen sind Bestandteile einer negativen Moral, die sich als Theorie durchaus ausformulieren ließe. Kernsätze wären: 1) man muss die Menschen antreiben; 2) es braucht im Leben Hierarchie; 3) streithaftes Ressentiment soll gefördert werden; 4) es gibt immer Besseres als Theorie (Obersatz der negativen Moral, der die anderen Sätze nicht zur Folge hat, den deswegen auch Bourdieu unterschreiben kann).

 

w) Soziales Band II. Dieses soziale Band trifft sich mit den einzelnen Bestimmungen des autoritären Charakters, mit denen es aber nicht identisch ist. Das Regressvokabular organisiert die Intellektualität, die Regressionsinstanzen des autoritären Charakters die Wunschmaschinen, die psychische Disposition.

 

x) Verhalten wie Grenzbegriffe. Ankersteine sind Grenzbegriffe oder verhalten sich wenigstens wie solche: Unbewusstes, Gerechtigkeit, Rationalität in den Institutionen der Bürokratie, Rationalität in den Wissenschaften, an der Universität, da, wo Organisation eine Rolle spielt.

 

y) Deformierter Rationalismus. Weil das zu deutende Gebilde bei Adorno im Zentrum steht, verteidigt er gewissermaßen den Rationalismus des autonomen Individuums, trotz aller soziologischen Einsicht in die gesellschaftlich-kulturindustrielle Determinierung und Deformierung des Individuums. Es ist dieses methodologische Apriori, das nicht mit dem utopischen vermengt werden darf, das ihn zum Antipoden Bourdieus macht, nicht sosehr die Deskription der Gesellschaft oder eine quasi anthropologische Verteidigung des (bürgerlichen) Individuums und des Rationalismus. Adorno steht zwar Bourdieu entgegen, aber mitnichten aus einer romantischen Perspektive oder Motivierung, die der Geschichte zum Hohn das Individuum verteidigen möchte. Hinsichtlich des Rationalismus ist das Verhältnis Adorno vs. Bourdieu recht eigentlich antinomisch, obwohl keiner dessen dunkler Seite weder Vorschub leisten möchte noch es tut. Bourdieus Arbeiten haben den Sinn, Begriffe aufzuarbeiten und in einem solchen kohärenten Zusammenhang darzustellen, dass sie von Praktikern auch der Sozialtechnologie mit Einsicht eingesetzt werden können; im sozialen Raum korrespondieren sie mit Spezialisten, den rationalen Gesellschaftssubjekten im Sinne von Habermas. Umgekehrt versuchen Adornos Texte, solche Gebilde, die einen Verbindlichkeitsanspruch haben, durch kritisch-begriffliche Deutung zu retten, damit sie sowohl in ihrer ursprünglichen Erscheinungsform wie auch in begrifflich rudimentärer Form von einem nicht festzulegenden Publikum rezipiert werden können.

 

z) Flucht vor dem Realen. Im Wirkungsbereich des Regressvokabulars dreht sich alles um die Verkennung, deren Wirbel sich der Realität entzieht, sich denjenigen Theorien entwindet, die mit der Realität korrespondieren. Die Verkennung entsteht dann, wenn in den Urteilen Objekt- und Reflexionsbestimmungen vermischt werden. Ihre Grundstruktur ist eine Aussage, die Behauptungen über ihr Subjekt wagt: ich bin das eine, ich bin das andere. Das Wesen der Kulturindustrie besteht darin, dass sie ausschließlich solche Aussagen bereitstellt, also imaginär-verdinglichte. Sie ist eine universelle Maschinerie, die neben der Kapitalverwertung den einzigen Zweck verfolgt, ihre Produkte so zu präsentieren, dass eine Deutung misslingt, eben weil der Rezipient auf sich selbst zurückgeworfen wird, auf seine „Genussfähigkeit“ [36] , auf eine Urteilskraft, die, abgeschottet von der äußeren Welt, gänzlich in den eigenen, um so verdinglichteren Reflexionsbestimmungen umherdriften soll – auch wenn nicht viel gegen die Discomaniacs gesagt werden kann, sind deren Wirkungsräume doch ein Bild dafür. Was die Kulturindustrie tut, ist nicht eine hämische Inszenierung des Bösen, sondern, intentionslos und ohne Machtzentrum, die Intensivierung einer Tendenz, die in der transzendentalen Apparatur des Bewusstseins neben anderen a priori, also quasi biologisch schon gegeben ist. Gegen sie tätig zu sein ist dann nichts anderes als der Versuch, die anderen Tendenzen desselben Dispositivs unter den gegebenen historischen Umständen überhaupt zu nennen. Das wird möglich, wenn nicht mehr gefragt wird, in einem verallgemeinerten Empirismus, wie die Realität beschaffen sein muss, damit sie eine gegebene Theorie hervorbringt; im Gegenteil werden alle gegebenen Theorien, die eine gewisse kritische Bereinigung überstanden haben, akzeptiert, um der Frage nachzugehen, wie ihr nichtkommunikatives Verhältnis darzustellen sei. Dessen Bezugspunkt – und das ist sozusagen eine geschichtsphilosophische These – liegt dann nicht in den Produktionsverhältnissen, sondern in denjenigen der sozialen Reproduktion, das heißt im Bildungssektor, wo sowohl die eine wie mögliche andere Theorien ihr Recht haben. Hier sind der absolute Relativismus und der Philosophieautonomismus nicht mehr nur überspannter Ausdruck der Wirkungswelt der Ankersteine, sondern selbst wieder griffige Werkzeuge dagegen.

 

7. Kulturindustrie und Zensur

Das Regressvokabular gewinnt sukzessive da an Boden, wo der Diskurs der Meinung gewichtig wird. In einem Vergleich mit dem europäischen Mittelalter darf von diesem gesagt werden, dass in ihm ein eigentlicher Diskurs der Meinungen noch gar nicht hat stattfinden können, weil das Öffentliche Dogmatikfreies gar nicht erst zu Wort kommen ließ. Ohne dem ideologischen Programm der Postmoderne folgen zu müssen, gehören die Ankersteine in ihre Epoche und sind nicht älteren zugrundezulegen. In diesem Sinne sind sie Merkmale der Zerstörung der Aufklärung.

 

Das Popwissen ist das Sediment des mittelalterlichen Zensursystems in der Moderne, im Kapitalismus. Zentral gehört zu beiden Systemen, dass sie vom Wunsch getragen werden, indem eher sie als dem Leben dienlich denn als herrisch empfunden wurden und werden. Dazu gehört, dass wohl Stützpunkte der Macht auszumachen wären, dass diese aber nur von untergeordneter Bedeutung sind. Waren sie in alter Zeit neben dem Waffenadel die Netze des Klerus, so heute (wiederum neben den Waffengehörigen) die Manager und Programmierer der Intendanzen, Kulturveranstaltungen und Studioproduktionen. Eine Verbesserung dieser Körperschaften würde am Falschen der Systeme nichts ändern, weil sie auch ohne jene Machtrelais gelebte Systeme bleiben. Als praktische sind sie zwar nicht gänzlich kohärent, deswegen aber um nichts weniger wirkungsvoll. Hat früher sich das Maß der Zensur am Horizont der Theologie orientiert (bis ins 19. Jahrhundert), so wirkt die verinnerlichte Zensurierung heute durch die Kulturindustrie: gemessen an den Werten der Warenkultur sind alle Gebilde, die sich noch deuten ließen, weil sie der Wahrheit verpflichtet sind (allein durch den Verbindlichkeitsanspruch), offensichtlich auch für politisch Aufgeschlossene ebenso bedrohlich wie die Infragestellung der ewigen Ordnung früher. Durch den komplizierten Mechanismus der Zensur bzw. Selbstzensur wird gerade diese Bedrohlichkeit, die nichts anderes ist als das kritische Potential in der Sache, psychodynamisch abgewehrt, längst bevor eine Auseinandersetzung ins Geschehen träte. Das bedeutet, dass die Kulturindustrie als religionssoziologisches Phänomen konzipiert werden kann. Denn auch hier geht es um die Reduktion einer diffusen Angsterfahrung auf ein erträgliches Maß, indem sie sich auf die Realität gleichwie bezieht wie auf die Wahrheit der Realität, d. h. die wahren Gebilde. Dazu gehört, dass die Protagonisten der Kulturindustrie – die „kritischen, sozialkritischen“ Stars – sich als die eigentlichen Missionare der Sozialtechnologie einspannen lassen. Sie sind der Rest der Sozialkritik, den auszumerzen gerade die Neue Freie Marktwirtschaft kein Interesse haben kann, weil sie sowohl die Zensurierung weitertreiben wie auch den Aufzehr der erweiterten Reste auf längeres garantieren.

 

Entscheidend ist die Einsicht darein, dass erst das System der Kulturindustrie die Idee des Elitären zur Welt brachte, indem es eine Grenze zu diesem postuliert. Was auch immer die qualitativ fortschrittlichen Momente der Gebilde der Kulturindustrie sind (progressive Rockmusik, anarchistische Politausbrüche, aufgeweckte Filme etc.) – auf künstliche Weise werden vorläufig noch gar nicht bekannte Gebilde perhorresziert, die vor aller Deutung gerade durch diese soziale Verdrängung als wahre bestimmt werden müssen.

 

Wie im Glauben oder in Glaubensfragen nicht alles falsch sein muss, damit die Zensur denunziert werden kann, sind auch nicht die einzelnen Produkte der Kulturindustrie oder Ableitungen des Popwissens a priori falsch und schlecht.

 

In einer Anspielung auf Hegel ließe sich formulieren, dass „der glorreiche Sieg“, den diese Kultur davonträgt, darin besteht, dass sie auch die falsche Meinung als potentiell volle Wahrheit industriell handeln muss, weil die Kriterien nur soweit tragen, dass der allgemeine Tausch nicht sabotiert wird – wie früher die Widersprüche des Buches des Glaubens dessen Wert nicht minderten. Der „glorreiche Sieg“, von dem Hegel in einer rein theoretisch-systematisierenden Abhandlung spricht [37] , betrifft das positivistische Wissen der Aufklärung gegenüber dem bloßen Glauben historisch vor der Vermittlung durch die Reflexionsphilosophie, die selbst durch die Hegelsche aufgehoben werden soll. Wenn auch die Analogien mit der Problemstellung des Idealismus, dem Philosophiezentrismus vor der Kritik von Marx und Nietzsche nicht zu weit getrieben werden dürfen, so sind sie doch auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Wurde in der vorhegelschen Philosophie die Vernunft zu Verstande gebracht (Jacobi), auf dass dieser vom Glauben nichts mehr wissen konnte und dadurch ein gänzlich geschwächter Sieger wurde, so wird im Popwissen jede Wahrheit zur scheindemokratischen Meinung, deren Siegeszeichen als gänzlich leerer Windsack mal dahin, mal dorthin weht.

 

In einem anderen Sinn sind die Ankersteine ein bloßer statistischer Effekt der Häufung öffentlicher bzw. veröffentlichter, zur Ware gemachter Aussagen. Würde das Wissen nämlich experimentell in Institutionen gehalten (wie in der alten Planwirtschaft), so wäre die Wirkungskraft der Ankersteine marginal. Sie setzen einen offenen Markt des Wissens voraus; dann sind sie, mit einem paradoxen Zug, Indikatoren der Funktionstüchtigkeit des Wissens als Ware.

 

Folglich ist das Vorgehen gegen das Vorherrschen des Regressvokabulars dasselbe wie gegen den Positivismus: Herstellen von Gebilden des Wissens, die auf eine Deutung angewiesen sind, wenn sie überhaupt wahrgenommen werden sollen. (Das gelänge selbst im Bereich statistisch-empirischen Wissens, wenn die Anstrengung auf sich genommen würde, die Gehalte auch in einer begrifflichen Form, die epistemologische Kritik zuließe, darzustellen.)

 

Doch lässt sich der Bogen der Perspektive nochmals zum Strukturalismus zurückbiegen. Denn zumindest Bourdieu steht fest in der Tradition der Irrtumslehren, wie eine der ersten bei Bacon artikuliert wurde, die berühmteste im Marxismus, eine bedeutende in der Psychoanalyse, „realistisch“ bei Freud, radikalisiert bei Lacan. Weil auch das Konzept der Ankersteine hierher gehört, kann es gleichzeitig als ein Bestandteil des Strukturalismus gedeutet werden. Von da her ist es nicht mehr weit, Adorno als bloßes Supplement Bourdieus zu begreifen, also keineswegs mehr leicht abspaltbar von dessen Intentionen, die an den aufgelisteten explizitesten Stellen von Adorno nicht das mindeste abzufangen wünschen.

 

Vermeidet man die naheliegende Mystifikation im Verständnis des Herstellens von deutbaren Gebilden, als Kultur der legitimen Klassik, so lassen sich leicht die letzten Zeilen aus dem Bourdieutext Über die `scholastische Ansicht', der den kritisierten Band von Gebauer und Wulf beschließt, zustimmend zitieren:

 

Die soziologische Analyse erlaubt es, „den Moralismus des übertriebenen Vertrauens in den rationalen Dialog in Richtung auf eine wirkliche Realpolitik der Vernunft zu überschreiten. Ich denke in der Tat, dass man, soweit man nicht an Wunder glaubt, den Fortschritt der Vernunft nur von einem permanenten Kampf um die Verteidigung oder Beförderung der für die Entwicklung der Vernunft günstigeren gesellschaftlichen Bedingungen erwarten kann, d. h. ebenso der Institutionen von Unterricht und Forschung wie der wissenschaftlichen Zeitschriften, der Verbreitung und Verteidigung guter Bücher, der Entlarvung akademischer oder anderer Formen der Zensur. Damit knüpft man wieder an eine große Tradition der – insbesondere deutschen – Philosophie an, die es nicht unter ihrer Würde fand, ihren Kampf um die Entwicklung des menschlichen Geistes in umfassenden Erziehungsprojekten Gestalt annehmen zu lassen, die darauf abzielten, die Vernunft und die Freiheit mit eigentlich politischen Instrumenten auszustatten, die die Bedingung ihrer Verwirklichung in der Geschichte sind.“ [38]

 

Ueli Raz, Bern 1994

 

Anhang

 

 

 

Prämissen:

1)     Die Ankersteine haben den Communication Breakdown zu verantworten; sie sind individuell, empirisch und nicht theoretisierbar. Ihre Unerkennbarkeit entspringt einem religiösen Charakter. In der Sprache Adornos ist dieser um so weniger mythologisch, als er das Dogmatische fördert (der Mythos wäre schon aufklärerisch).

 

2)     Bourdieu streitet die Möglichkeit einer verbindlichen Theorie bzw. einer verbindlichen Kunst ab.

 

3)     Umgekehrt schirmt sich der Philosophiezentrismus gegen die Soziologie und die Politik ab.

 

4)     Der Philosophiezentrismus im Umfeld Derridas favorisiert Unbegriffe – „Unentscheidbare“ – mit einem Effekt in der Theorie, der demjenigen der Ankersteine im empirischen Bewusstsein nahe kommt. Derrida selbst setzt sich von diesem Theoretizismus ab, weil die Dekonstruktion sich parasitär an bereits artikulierten Texten entfaltet.

 

5)     Adornos negative Dialektik vermittelt unabschließbar zwischen individuellen Gebilden mit Anspruch auf Verbindlichkeit und historisch-gesellschaftlichen wie auch theoretisch-begrifflichen Strukturmomenten.

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[1] Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften IV, 15, Einleitung in die Soziologie, Frankfurt am Main 1993.

[2] Adorno Gesammelte Schriften (AGS) 8, p. 244.

[3] Harald Kaufmann (Hrsg.), Symposion für Musikkritik, Studien zur Wertungsforschung 1, Graz 1968, p. 121.

[4] Diese beziehungslustigere Sichtweise scheint sich schon jetzt anzubahnen: Markus Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus, Hamburg 1993. Im Detail schlägt die Bezugnahme des Bourdieustrukturalisten auf Adorno allerdings daneben, wenn mit understatement die methodologische Problematik der Passagen über Jazz und Strawinsky moniert wird (p. 198, Anm. 41). Keine Frage übrigens, dass die Favorisierung des unseligen Kampfvokabulars allen hegelischen Versicherungen zum Trotz das irrationale Prestigegehabe in den Institutionen der intellektuellen Performanz noch weiterhin mit verstärkt.

[5] Der Einschätzung der Theorieentwicklung als immanente, in der sukzessive einzelne Prämissen obsolet gemacht werden, droht das Falsche des Objektivismus; derjenigen der empirischen Falsifikation unverbindlicher Pluralismus bzw. Theoriefeindlichkeit.

[6] A. a. O. Es muss nebenbei auf das sonderbare Verhältnis des wissenschaftlichen Strukturalismus Bourdieus zu seinen häufigen und formgelungenen Interviews bzw. leicht gehaltenen Vorträgen hingewiesen werden. Hier wird zuweilen so lange auf die kritischen Einwände eingegangen – des Determinismus, des Zynismus, der metaphysischen Urteilsgier über die Menschen als Gruppeneffekte, des Antiintellektualismus und der Soziodizee – bis man ihm glaubt, solange jedenfalls man an diesen Stellen haftet.

[7] Im Vortrag Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen? zielt Bourdieu auf Ähnliches, die Analyse des „Feld(es) der künstlerischen Produktion in seiner Gesamtheit“ (ebd., p. 202), doch fehlen sowohl die Konstruktion der Geschichte wie die Kritik der Begrifflichkeit. Es ist erstaunlich, wie er drei Seiten davor Adorno als täppischen „Verteidiger der reinen Kunst“ denunziert. Ich meine, eine solche Verkennung kann als warnendes Exempel für die Wirkungsweise eines verbohrten, regressiven Sprachgebrauchs gelesen werden. Weil das Feld der Produktion bei Adorno nur eine von mehreren Analysedimensionen ausmacht, wird es in der Kritik den phantasierten der Kunstautonomie mit Kraut und Rüben untergepflügt.

[8] Man lasse sich da von Adorno nicht zu schnell vereinnehmen: ich denke an den Film Peefeeyatko, wo Zappa mit Boulez im Arbeitszimmer von Xenakis diesem sagt, er, Zappa, sei als Komponist gegenüber den anderen deshalb im Nachteil, weil er beim Komponieren nie die begrenzte Spielfähigkeit der ausführenden Rockmusiker außer Acht lassen dürfe, worauf Xenakis um seinen Schreibtisch herumgeht und auf der verdeckten Seite einen Stab hervorholt, der eine Celloattrappe darstellt, und auf ihr zeigt, wie auch er die schwierigsten Griffpassagen selbst vollbringen will, bevor er sie als Noten stehen lässt. Zum einen macht das Offensichtliche der Blöße den Kulturindustriellen Zappa um so wahrhaftiger, zum anderen zeigt die Szene, dass das Verhältnis der unterhaltenden zur legitimen Kunst durchaus auch ganz individuelle Kategorien voraussetzen kann und die Warenkritik hierbei nichts zu deuten vermag.

[9] Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, a. a. O., p. 208; Hervorhebungen vom Autor.

[10] Gunter Gebauer und Christoph Wulf (Hrsg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt am Main 1993.

[11] Ebd., p. 28f, Anm. 14.

[12] Witzigerweise sieht sich gerade die Oevermannsche objektive Hermeneutik, die methodologisch sich sowohl auf Lévi-Strauss als auch auf Adorno stützt, geschützt vor kulturindustrieller Verführung. Indem sie die Protokolle sozialen Handelns wie die Werke der Kunst analysiert, um die Strukturgesetze bzw. „materialen Formkategorien“ (Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, AGS 13, p. 193) offenzulegen, entspringt der Beschreibung von Empirischem Kritik. Vgl. Ulrich Oevermann, Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse, in: Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt am Main 1983, p. 279f (die Stelle aus dem Mahlerbuch wird nicht zitiert; auf dieses wurde in einem Vortrag in Bern am 3. 11. 1993 vague hingewiesen, Krise, Charisma und die Entstehung des Neuen). Oevermann vermag seine Gebilde nicht vom Alltag, d. h. der Kulturindustrie abzutrennen, ihnen konzeptuell eine relative Autonomie zuzuordnen. Er problematisiert zwar den Autonomiestatus der Vernunft, doch sind seine Gebilde a priori heteronom, weswegen seine methodologische Intention mit derjenigen Adornos sich nicht vergleichen lässt.

[13] Gemäß einer Buchnotiz in der Zeit macht Bourdieu auf einem neueren Weg eine Kritik der Bildungsinstitutionen, die die antiintellektuelle Stoßrichtung des Homo Academicus, Frankfurt am Main 1988, hinter sich lässt; zudem bleibt zu erinnern an Die Illusion einer Chancengleichheit, Stuttgart 1971, zusammen mit J. C. Passeron.

[14] Ich möchte hervorheben, dass aber gerade die Darstellungen der Prägung der individuellen Verhaltensweisen durch die sozialen Räume äußerst ernst zu nehmen sind, wenn sie nicht als plötzliche Erklärungen jede Kritik einzementieren. Zu denken ist etwa an die Fragilität der Aussage von der Notwendigkeit, der der einzelne unterworfen ist und die er im Habitus zu seiner Tugend macht.

[15] Einen lesbaren Einblick in diese Verhältnisse ermöglicht der hier weidlich genutzte Artikel von Hans-Dieter Gondek, Jacques Derridas Recht auf (Zugehörigkeit zur) Philosophie. Neuere Bestimmungs- und Begründungsversuche, Philosophische Rundschau, 40, 1993, H. 3.

[16] Emil Angehrn, Freiheit und System bei Hegel, Berlin New York 1977.

[17] Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus, de Gruyter 1983.

[18] In einem kurz gefassten Text ist der Ton fruchtbarer gehalten: Carl Braun, Zentrale philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Philosophie Theodor W. Adornos, in: Jürgen Näher (Hrsg.), Die Negative Dialektik Adornos, Opladen 1984.

[19] Das ist übrigens eine adornotypische Wendung: die Kritik einer sozialen Tendenz lässt sich besser an Gefolgsleuten zu Ende führen als an ihren ursprünglichen Initianten, an denen man sie überhaupt nur begreifen kann, also besser an den „blinzelnden“, mittelmäßigen Komponisten als an Schönberg, Bartók und Strawinsky. Deutlich zeigt sich diese Sachlage, die Adornos Philosophie der neuen Musik strukturierte, im Band Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida–Benjamin, Frankfurt am Main 1994.

[20] Gondek, a. a. O., p. 162ff; Hervorhebungen vom Autor. Mit dem Risiko, die Sache zu trivialisieren, ließe sich vielleicht sagen, dass dieser Text hier, die Eigentlichkeit seines Themas, eine Infrastruktur hervorruft: denn wäre die Struktur die Anerkennung der Departementalisierung (Adorno) des Wissens in Disziplinen, so gibt es Fragen, die diese Ordnung stören und ein Sich Arrangieren verlangen, den guten Willen der Departementsangehörigen. Das wäre eine, möglicherweise durch den Voluntarismus etwas metaphysisch gefärbte Infrastruktur, immerhin eine realistische angesichts der vielen verschleuderten Hoffnungen auf Interdisziplinarität.

[21] Rodolphe Gasché, The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection, Cambridge, Mass. and London 1986, zitiert in Gondek, a. a. O., p. 166.

[22] Vgl. Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, Berlin 1987, p. 18 und 41. Paradox zu einer seiner Grundhaltungen laufen die Bemerkungen auf eine Unterdrückung des Schriftlichen in der Musik hinaus. In Recht auf Einsicht, Wien 1985 wird am Schluss die serielle Musik „angeführt“.

[23] Immerhin nimmt Derrida zum Beispiel Bezug auf sein von Dritten bemängeltes Desinteresse an der modischen Moralphilosophie. Das ist ein erster Schritt, nach dem eine Konkretisierung des Abgewehrten nicht mehr schwer fallen dürfte, auch wenn es abwegig erscheint, einen Kommentar zur gegenwärtigen Moraleuphorie als nötig zu erachten, liegen ihre Ziele doch nur zu offen zutage.

[24] Vgl. Theodor W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, a. a. O., AGS 8, p. 235: „Konkreter heißt Dynamik, in der Geschichte bis heute, zunehmende Beherrschung äußerer und innerer Natur. Ihr Zug ist eindimensional, geht zu Lasten der Möglichkeiten, die der Naturbeherrschung zuliebe nicht entwickelt werden; stur, manisch das Eine verfolgend, verschlingt die losgelassene Dynamik alles andere. Indem sie das Viele reduziert, potentiell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche.“

[25] Beide Autoren in Haverkamp, a. a. O., p. 285 und 306.

[26] Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985.

[27] Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1993. Bourdieu und Benjamin berücksichtigen die Produkte der Kulturindustrie affirmativ bzw. frivol; um so verständnisloser und unverständiger wenden sie sich gegen verbindliche Gebilde sowohl der Kunst wie der Theorie (das ist natürlich nur ein einzelnes Moment im Schreiben Benjamins, das aber offenbar sich verselbständigen lässt, wie das ansonsten gelungene Buch von Buck-Morss, das fraglos an die Seite des original aufgearbeiteten Passagen-Werks gehört, zeigt).

[28] Von daher ist der eher abwehrende Umgang der deutschsprachigen Soziologie mit Adornos Begriff der Kulturindustrie verständlich: was sie zu ihrem Gegenstand macht, soll methodologisch gleich behandelbar sein.

[29] Vor allem AGS 18 und 19.

[30]  Dialektik der Aufklärung, AGS 3, p. 188f; Hervorhebungen U. R.

[31] Dass auf ungefähre Weise er dennoch sich an etwas Verlorenes hat besinnen können, deutet die Notiz zur Neuauflage des Kierkegaardbuches 1966 an: „Soviel Unzulängliches an dem einst Geschriebenen ihn (Adorno) später stört, es mag dafür auch Möglichkeiten enthalten, die er in seiner Entwicklung nicht einlöste und die ihm selber gar nicht offenbar sind.“ (AGS 2, p. 262)

[32] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, p. 191 (B 112, A 111).

[33] Nutzen Adornos: Wenn die metaphysische Kategorie des Selbst nicht vollends positivistisch verleugnet wird, ist es möglich, die Ankersteine wie Zahnstein abzubauen. Das geschieht nicht, indem das Selbst nach klassischer Manier ins Zentrum gestellt wird; sondern darin gruppieren sich die Gebilde, die vom virtuellen Selbst gedeutet werden, im prinzipiell unabschließbaren Deutungsprozess, der dieses Selbst für es selbst in keinen Identitätswahn verführbar macht, in dem die Ankersteine wirken könnten. Ist das so elitär Teuflisches, was es bei Adorno abzuwehren gäbe?

[34] Vgl. Jacques Derrida, Fors. Die Winkelwörter von Nicolas Abraham und Maria Torok, in: N. Abraham und M. Torok, Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, Frankfurt, Berlin, Wien 1979.

[35] Jacques Derrida, Telepathie, Berlin 1982, p. 27: „Glaubst Du, dass man von Lüge sprechen kann in der Philosophie, oder in der Literatur, oder besser noch, in den Wissenschaften? Stell Dir die Szene vor: Hegel lügt, wenn er sagt in der Großen Logik… oder Joyce, in irgendeiner Passage von F.W., oder Cantor? mais si, mais si, und je mehr man spielen kann damit, desto mehr interessiert's mich. Im Grunde, so ist das, haben die Diskurse, in denen die Lüge unmöglich ist, mich nie interessiert.“ (Hervorhebung vom Autor.)

[36] Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1974, p. 26ff.

[37] Vgl. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, Werke 2, Frankfurt am Main 1970, p. 288.

[38] Gunter Gebauer und Christoph Wulf (Hrsg.), a. a. O., p. 355f; Hervorhebung vom Autor.

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