Halbwertszeit einer Kinderzeichnung
Als der Erstklässler Anfang der Sechzigerjahre bei einem Zeichnungswettbewerb einen der ersten Preise erhielt, konnte er nicht wissen, ob dies wegen der Qualität der Farbzeichnung geschah oder wegen der moralischen Aussage: Am Waldrand picniquen zwei Pärchen auf je einer Bank sitzend. Um die eine Bank herum liegen die Abfälle dieser Essenden (und wahrscheinlich solche noch von vielen Vorgängern), um die andere herum sind keine Dreck- und Abfallspuren auszumachen. Wer meint, das eine Paar sei eben in Fragen des Umweltbewusstseins noch auf einem tiefen Niveau, während das andere sich auf einem hohen sonnen darf, irrt. Denn das Bild enthält einen deutlichen Zusatz: Bei der zweiten Sitzbank ist ein Abfallkorb zur Seite gestellt, während er bei der ersten ebenso augenfällig fehlt.
Die Idee, gesellschaftliche Arbeit in den Bereich des nicht absolut Notwendigen zu verlagern, in die weite Landschaft der Echos urgeschichtlicher Opfergaben und jedenfalls, so sagt, wer zwischen Kaserne und Flugplatz aufgewachsen ist, immer schon: weg vom Militärischen, hat die ganze Biografie nie verlassen, und in den westeuropäischen Gesellschaften hat sie sich bekanntlich im Geschichtsverlauf förmlich materialisiert und wurde bis Mitte der Achtzigerjahre beinahe zur wahren Selbstverständlichkeit.
Im Zuge des sehr wohl vermeidbaren, aber im gesellschaftlichen Wandel von der Demo- zur Stupidokratie herbeigesehnten Neoliberalismus hat sie an Glanz eingebüsst, weil die neuen aggressiven Herrschenden sie mit ihren Stiefeln der Wichtigtuerei traten und so allgemein der Lächerlichkeit preisgaben. Ihr Zerfall setzt bis auf weiteres eine ungeheure Masse an Arbeitslosen frei, die es aber nur sind durch eigene Schuld, durch Zurückhaltung auf dem Feld der Eigeninteresse. Die das ausspricht, die faschismustolerante Betriebswirtschaft, gehorcht nur dem einen Triebziel, was einst Vernunft hiess von allem Substanziellen freizumachen. Konstruktion, Bau und Unterhalt von Gebilden, die nicht unmittelbar der Geldverwertung dienen, sind im gestohlenen Namen der Vernünftigkeit bis zum äussersten zu vermeiden; wo daraus Unrat & Unflat entstehen mögen, kann immer noch, so gesellschaftskonform dünken sich ihre heroischen Funktionsträger, an die Moral der Einzelnen appelliert werden. Das kleine Kind durchschaute eben dies: man kann objektiv es nicht.
ur am 28. 11. 2005 um 14.04 Uhr [link]
Funny Googlism
Google offeriert ein neues Analyseinstrument für Websites, gratis und, wie die Gebrauchsanweisung versichert, boobelieinfach zu installieren. Als einziges muss nur auf jeder Seite ein 6 Zeilen umfassender Javascript Code eingefügt werden. Pro Site oder pro Seite? --- Auf jeder Seite nur einmal - hier also nicht weniger als 418 mal ... einfügen, abspeichern, und in den richtigen Ordner (???:-!!!) auf den Server reloaden. Bis das Internet wieder funktioniert, lachen sich die Googelhöpfe den Buckel voll, in ihren Büros, weltweit.
ur am 27. 11. 2005 um 17.01 Uhr [link]
Natur & Gesundheit
Speedet einer ein ganzes Jahr in den Bergen herum, sollte man meinen, sein allgemeiner Gesundheitszustand sei so top wie die Touren hoch gingen. Weit gefehlt, gesunder Menschenverstand! Beim kleinsten Virenhüsteln im Fribourger Regionalzug bei Palézieux, wo morgens um 8 erst der Güggel die Hühner im Broyetal weckt, haut's ihn um, nun schon eine fiebrige Woche lang.
Zum Teufel mit der Wahrheit: Nur Fernsehgaffer werden überleben!
ur am 27. 11. 2005 um 09.39 Uhr [link]
Lüftmusik mit Pauke
Die zwei Zimmer werden gelüftet, auch die Verbindungstüren stehen offen: Durchzug in der Wohnung bei Windstille draussen. Durch die Strasse mit den kleinen Häusern und den vielen Blumen- und Sträuchergärten fährt der Müllabfuhrwagen zur Leerung der grünen grossen und mittelgrossen Grünabfuhrbehälter. Als Ex-Hausmeister weiss ich, wie leicht nur auch weiches und dünnes Geäst in denselben zu sperren beginnt. Deswegen werden sie bei der Leerung wie Baggerschaufeln hartkantig geschüttelt, als würden sie mit Eisen geklopft. So kommt alles raus, auch ein rhythmisch eher konservativer, geschlagener Sound. Für einen Moment wird er aber musikalisch wundersam: Der Abfuhrwagen tut sein Werk zwischen meinem Haus und dem voranstehenden, wo er Behälter der gegenüberliegenden Häuser ausschüttelt. In die andere Richtung steht eine Häuserlücke offen, die nach hundert Metern mit einem grossen breiten Bau abgeschlossen wird. Ich stehe für kurze Zeit im Zimmer nach dieser Richtung (brauche Notizschnippsel für einen braven Kommentar bei Philotustan) und höre nur die Echoschläge hell & klar - die Quäl- und Quellklänge erscheinen als Zusätzliches aus der Ferne hinter allen Zimmerwänden. Der Mischklang wirkt ohrenbetäubender und neu, weil er und das ganze Geschehen während diesen fünf bis zehn Sekunden nicht auf Anhieb identifiziert werden können.
ur am 18. 11. 2005 um 08.36 Uhr [link]
Hacking radio
Der Hass der Medien gegen die Musik hat verschiedene Formen, von der absoluten Formlosigkeit des Totschweigens bis zur aufdringlichen regressiven Ridikülisierung. Im Radio besteht eine darin, Sendungen zwar produzieren zu lassen, sie in den Programmankündigungen aber nicht aufzulisten - man gerät in sie spontan, unvorbereitet, mitunter launisch undisponiert. So auch gestern in der wöchentlich einen Stunde für Musik unserer Zeit (eine weitere wird gewährt noch zur Wachzeit der Trostlosen und Lichtscheuen). Keine Ahnung von nirgends konnte haben, wer sich die Sendung anhörte, trotz Nazigebrüll durch die Kopfhörer aus der fernsehfussballgierigen Nachbarschaft. Natürlich war es eine der guten Sendungen, über eine Komponistin mit dichter neuer Musik, ja richtig verflochten mit Spannung zum Zuhören, die einem aber mit Namen noch völlig unbekannt ist. Doch um wen handelt es sich nun, buchstabengenau? Zum Teufel, es ist unmöglich, den Namen zu erfahren. Nichts ist zu finden auf der Website von DRS2, nur Undeutliches, Gehuschtes mit den Ohren wahrzunehmen von der Redaktorin, am Schluss von der Moderatorin. Eine halbe Stunde wurde dann Google traktiert, mit jenifer, yennifer, jennifer, jeniffer, jenniffer, walsh, whalsh, wolsh, wlosch, milka.com, milk.com, milker.com, milkercorporation.com, milkercorp.com ansoooooooon... Wie ist er nur verabscheuungswürdig, der Medienhass auf die Musik!
Die interessante Komponistin heisst Jennifer Walshe und ihre leicht schiefe Website, die man mit ihrem Namen alleine nicht findet, http://www.milker.org/.
ur am 17. 11. 2005 um 06.38 Uhr [link]
Übers Tabu stolpern bringt weiter den Tod
In der aussereuropäischen Musik ist Kritik deswegen verpönt, weil sie nicht als Kritik einer Handlung verstanden wird, sondern immer schon als die der ganzen Person. Wie könnte kritisches Denken im Rahmen solcher Kunstpraktiken trotz allem zum Zuge kommen? Sind Lehrer absolut undenkbar, die in Indien, Persien, Ägypten oder in der Türkei die Notwendigkeit zum Wandel einsehen und die SchülerInnen in der Praxis der Kritik von künstlerischen Tätigkeiten einüben würden? - Einfältige Amerikagänger schwärmen nicht nur vom Golf als Volkssport, sondern von der pädagogischen Kultur, die das Loben so unermesslich weit über die Kritik erhoben hat, dass der kritische Gedanke da, wo Personen zugegen sind, im eigentlichen Sinne verpönt ist und der political correctness widerspricht. Katastrophisch, wie sich die Achsen und Speichen zu ähneln beginnen, gerade dann nun, wenn sie meinen, das Rad der Geschichte selbst zu sein.
ur am 6. 11. 2005 um 16.26 Uhr [link]
Schweizer Schweissarbeit auf dem steinigen Boden des Rechts
Gestern Abend beeindruckende Sendung von Christoph B. Keller auf Radio DRS 2: Der lange Schatten des Sani Abacha. Von Beginn an fesselt einen Bewunderung für den Reporter, wie er die Akteure - Juristinnen und Juristen - so zum Sprechen bringt, dass durch deren Originalbeiträge das langwierige komplexe Geschehen Stück für Stück sich selbst darstellt. In gleicher Weise wächst die nämliche Bewunderung auch für die Akteure, allen voran für den Juristen, der von der nigerianischen Regierung angefragt worden war und der seinerseits bei den Schweizer Behörden und bei den Banken vorstellig wurde. Sani Abacha regierte Nigeria in Terror von 1993 bis zu seinem Tod 1998. Die nachfolgende nigerianische Regierung wirft ihm und seinem familiären Umfeld vor, das Land systematisch geplündert zu haben. Insgesamt soll der Abacha-Clan 2.2 Milliarden Dollar ins Ausland transferiert haben. Davon wurden dann 700 Millionen auf Schweizer Konten sichergestellt - als Erfolg der langen juristischen Prozesse konnten die Schweizer Behören in den vergangenen Tagen die Schweizer Banken beauftragen, auch die letzten Gelder davon Nigeria zuzustellen.
Zwar hat dieser Fluchtgelderskandal damit noch kein Happy End gefunden, weil die heutige politisch festgelegte Zweckbestimmung der Gelder, als direkte oder indirekte Sühneleistungen der Terroropfer Sami Abachas wirksam zu werden, alles andere als gesichert ist und weil die anderen Betrugsgelder im Wert von über einer Milliarde Dollar offiziell weder von den Engländern noch anderswo auf dem Fluchtgeldbankenmarkt als sichergestellt gemeldet wurden - dass es aber möglich ist, von freien einzelnen Juristen einen so heiklen Prozess in Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden und undurchsichtigen Banken so lange in Gang zu halten, gibt Zeugnis von einem modernen rechtlichen Gesellschaftsgefüge, das nicht nur als Garant von Law & Order in Erscheinung tritt, sondern offenbar auch so auf das Falsche im Realen zuzugehen imstande ist, dass es das Wahre vielleicht nicht wiederherstellt aber doch die Hoffnung zu immer neuem Leben erweckt, dass es nicht unwiderruflich ins Abseits geschoben ist. Man sieht: Es ist nicht nur der in Kämpfen erzeugte Druck, der Rechtsprozesse in Gang hält - oft genügen gewöhnliche Anfragen, um erlittenem Unrecht Recht widerfahren zu lassen, ohne weiteres Zutun durch gänzlich undurchschaubar wirkende Verhältnisse hindurch; nur ohne Anstösse bleiben dieselben schlechte Wirklichkeit.
Blieb man liegen auf dem Sofa mit den Kopfhörern eingeschaltet, zeigte sich um ein doppeltes Mal, zu was die Medien Fähigkeiten besässen, würde in den Instanzen mehr der Moral Vorzug gegeben als den regressiven Reizen. Kjell Keller stellte aus vier Konzerten Persischer MusikerInnen in Bern der letzten 10 Jahre vier Ausschnitte zusammen, die einen tief in die Konfliktsituation heute eintauchen liessen, immer aber mit dem riesigen Horizont der Hoffnung vor Augen, den einem grosse Kunst allenthalben aufreisst, dass unterschiedliche Künste und Kulturen von keinem Recht wegen dazu verdammt sind, einander zu vernichten, sondern insgesamt auf unterschiedliche Weise Einblicke gewähren ins Wunderbare dieser Welt, von dem keiner zu sagen sich verpflichtet fühlen muss, es würde durch ihn enträtselt worden sein.
ur am 5. 11. 2005 um 14.42 Uhr [link]