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ur am 9. Februar 2006 um 06.07 Uhr: Effekt als Wirkung ohne Ursache - Rattenlogik
Die Phrase vom Effekt als der Wirkung ohne Ursache ist bekannt von Richard Wagner, dessen Bestimmung seiner eigenen Kunst als der des Übergangs sie des näheren charakterisieren soll. Die Wirkungen in der Wagnerschen Kunstmusik sind vermittelt in und verursacht durch die kunstvollen Übergänge, die das grosse Ganze zusammenhalten. In der Tat sind es nicht die Leitmotive oder sonstwie ein substantieller Gehalt, die den Wert Wagners für uns noch auszumachen vermöchten. Man kann diesen Werken ohne Schwierigkeiten und mit höchster erregender Anspannung auch im heutigen hektischen Zeitempfinden unendlich lange zuhören, ohne das Interesse und die Faszination für sie zu verlieren - weil die Übergänge so raffiniert konstruiert sind, dass das Konstruktive an ihnen nicht zutage tritt. Dieses Bewusstsein von der musikalischen Logik als der Kunst des Übergangs wurde beim Meister des kleinsten Übergangs, Alban Berg, so weit getrieben, dass die kompositorischen Gebilde im ganzen einen neuen Blick, eine neue Blickrichtung erhalten haben: einen eindeutig nach vorne gerichteten Impuls, der danach verlangt, die Mittel konstruktiv voranzutreiben.
Man muss die Phrase Wagners, wenn sie sich auf seine Kunst bezieht, wie die Unternehmen von Marx und Nietzsche als Widerstand gegen den Theologismus und Positivismus verstehen; herausgelöst aus diesem progressiven Kontext bildet sie das Ferment einer riesigen Epoche, die sich nach wie vor dagegen sträubt, an ihr Ende zu gelangen. Der Spruch, der bei demjenigen, der ihn für uns bekannt machte, über sich hinaus trieb, hat immer schon die Epoche des Theologismus mit dem Positivismus verknüpft: Nur das ist gerechtfertigt, was sich auf einen Grund oder eine Ursache zurückführen lässt. In diesem Horizont und in dieser Perspektive vermag der Positivismus, das nicht Zweckrationale als das scheinbar Unvernünftige auszusondern wie es dem Theologismus gelingt, in der Form des Absoluten dasselbe ins Ganze zu reintegrieren, als die ewige Ursache aller in sich befristeten Ursachen.
Die positivistischste aller Wissenschaften ist auch diejenige, der man den Positivismus ohne Zaudern zugesteht. Die jüngste Medizin ist in eine Phase eingetreten, wo das Kausalprinzip ausser Kraft zu treten scheint. Viele Krankheiten, auch Morbus Ollier, werden als genetisch bedingte beschrieben und als vererbte begriffen - nicht aber so, dass ein Eltern- oder Ahnenteil sie bereits einmal gehabt haben müsste, sondern nur so, dass in der natürlichen Veränderung der Erbmasse im Laufe der Generationenabfolge eine Disposition entstünde, aus der der Effekt entspringen könnte, nicht im mindesten dies aber mit Notwendigkeit muss.
Da es sich bei diesem quasi-stochastischen Erklärungsmodell in der Medizin offensichtlich nur um eine Phase handelt, die dadurch ihre Abschlüsse findet, dass die genetischen Codes, die die Krankheiten bewirken, entschlüsselt werden, ist eine Nähe zur Systemtheorie, deren Sinn reaktionär nur darin besteht, die gegebenen Zustände zu rechtfertigen, nicht zu befürchten; die heutigen Erklärungsweisen in der Medizin und in der Psychiatrie rechtfertigen mitnichten das Theoriemodell der Systemtheorie im ganzen. Denn das Kausalprinzip ist dadurch, dass sein Zusammenhang nicht mehr in einer rigiden Durchgängigkeit verankert ist, noch lange nicht radikal ausser Kraft gesetzt. Wo die Ursachen bekannt sind, bleibt der Rückgriff auf scheinbar unbekannte verborgene Komplexe nach wie vor falsch, eine unfügliche Lügenerklärung. Weil es bleibt, dass der Spruch des Effekts als Wirkung ohne Ursache auf etwas Falsches aufmerken lassen soll, bleiben die Ansprüche der moralisch Falschen falsch, ihre Verhaltensweisen mit unbekannten, in einer vorläufig unzugänglichen Tiefe verankerten Strukturen entschuldigen zu wollen. (Dieses penetrante Austreten aus der Verantwortung ist nicht nur im Bereich der Moral immer häufiger zu beobachten, sondern katastrophischer in der Ökonomie, die sich schamlos erfrecht, ihre Taue zum Gesellschaftlichen Stück für Stück durchzutrennen, indem der politisch-gesellschaftlichen Vernunft das Recht abgesprochen wird, über ihre kurz- und langfristigen Zwecke zu bestimmen, weil sie doch keinen Zugang habe zu den eigentlichen Mechanismen ihrer inneren Dynamik, die nur von den unmittelbaren Akteuren, früher den Kapitaleignern, heute den zynischen clownesken Managern, in Gang gehalten werden. - Im zwanzigsten Jahrhundert formulierte man die Einsicht, der Kapitalismus funktioniere nur, wenn er schlecht funktioniert, wie ein Motor, der immer wieder neu gezündet werden muss. Heute beschränken sich die amoralischen Führer auf seine optimierbaren, dem Wortsinne nach nicht mehr ökonomischen sondern isoliert finanztechnischen Teile, und in diesen Bereichen leisten sie zum Nachteil der Gesellschaften das unübertreffbare Beste, das Kritik durch die anderen, gesellschaftlich Allgemeinen, also die politischen BürgerInnen a priori lächerlich erscheinen lässt.)
Ein fruchtbares Land zeigt sich an demjenigen Horizont der Epoche des Kausalprinzips, wo das Empirische nur nachgemacht wird: in den Gebilden, wie sie im Internet als Texte immer noch und als Bilder erscheinen, die über die Welt zwar nach wie vor Auskunft geben wollen, an den Rändern aber gänzlich ohne Halt und ohne Abschluss dastehen. Keineswegs der Kunst zuzurechnen, wollen sie als gesellschaftlich-praktische Gebilde Wirkung erzielen und in die Prozesse der Gesellschaft eingreifen. Ihre nur vage erscheinende Form macht sie zu Nachrichten in einer Flaschenpost, die nicht als Ursache bei einem wirklichen Adressaten eine Wirkung beabsichtigen darf, weil solche Intentionen ohne Ausnahme mit Scheitern bestraft würden. Das völlig Neue am Internet mit seiner dichten und dicken Vernetzung verhindert aber, dass die Gebilde ganz ohne subjektive Hoffnung in die Welt gesetzt werden müssen, als blosse Effekte wie Funken, die sich in keinen vernünftigen und nützlichen Zusammenhang reintegrieren liessen. Die prioritär vernetzte Erscheinungsweise enthält immer schon die Möglichkeit, besondere Gehalte von besonderen Gebilden durch Köder mit gänzlich allgemeinen Formgehalten so in Szene zu setzen, dass sie von denen aufgespürt und rezipiert werden können, auf die die besonderen Gehalte zielen und Wirkung machen wollen. Dank dieser Strategie des Köderns, die der Gesamtzusammenhang förmlich herausfordert, sind die neuen fragmentarischen und aphoristischen Internetgebilde nicht zur definitiven Sinnlosigkeit von Handlungen isolierter Idioten verdammt, sondern dürfen mit Fug den Anspruch erheben, Effekte machen zu wollen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Möglicherweise überquillt das Netz vor lauter Köder und die einzelnen durchgebildeten Gebilde bleiben ohne Wirkung. Auch wenn sich solches nicht bis ins Letzte steuern lässt, enthebt jenes mit seinen unbezähmbaren Verknüpfungs- und Übergangsmöglichkeiten die Gebilde wenigstens dem Verdacht, durch gar keine Intention auf die Welt gesetzt worden zu sein, die sich rechtfertigen liesse, über die sich sprechen liesse. Weit entfernt von Wagners singulären Ansprüchen, ist es heute um nichts weniger die musikalische Logik, die des Übergangs, die das Ganze zusammenhält und weiter vorantreibt.