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2 Die indische Musik als System

2.1 Der phänomenologische Ansatz

2.2 Der theoretisch vermittelte empirische Ansatz

2.3 Die Ragas im System der nordindischen Thatas, der südindischen Melakartas und in scheinempirischen Systemen

2.3.1 Bhatkhandes That-System

2.3.2 Die karnatischen Melakartas

2.3.3 Empirisch-nominalistische Raga-"Systeme"

 

 

Trotz des allgemeinen ethnomusikalischen Verständnisses der praktizierten Stimmungen bleiben vor einem ähnlichen Fragehorizont noch viele Reststücke, insbesondere wie nämlich das Verhältnis des unendlich feinen Tonkontinuums zu den Intervallen als bloßen Ereignissen innerhalb oder außerhalb seiner Struktur zu begreifen sei, wie also in den einzelnen Kulturen über das Tonsystem tatsächlich entschieden wird.

 

Die transkontinentale, global verbreitete Musikphilosophie ist durch die physikalische Tatsache gebannt, dass es Intervalle gibt, die als rein empfunden werden; ihr Längenverhältnis lässt sich durch einen Bruch darstellen, dessen Nenner kleiner als Zehn ist.[1] Diese unumstößliche Tatsache hat den ideologisch-mythischen Effekt im Gefolge, dass phänomenologisch das Thema der Intervalle die nicht weniger wichtige Frage beherrscht und ihr Erscheinen gänzlich niederdrückt, wie es denn zu verstehen sei, dass in der Natur ein Kontinuum von Tönen besteht, aus dem die Intervalle – die einzelnen Töne der musikalischen Künste – nur Ereignisse sind. Das Besondere und Katastrophische am Systematisieren der Tonintervalle besteht darin, dass es dann, wenn seine Realisierung gelingt, jeden Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Klangkombinationen und die bereits gepflegten musikalischen Formen verstellt. Diese Schwierigkeit, die recht eigentlich als Antinomie auftritt, ist bei den antiken Griechen gleich beobachtbar wie bei Stockhausen, bei den Produzenten von Computermusik und eben auch bei den Theoretikern der indischen Musik.

 

Deshalb dürfen die philosophisch-theoretischen Erwartungen gegenüber dem indischen Tonsystem nicht zu hoch gesetzt werden. Denn wenn eine seiner Bedeutungen auch darin besteht, die nichttemperierten Welten, die das europäische weggeschnitten hatte, immer neu entdecken zu lassen, so liegt eben doch eine spezifische Struktur der Intervallverhältnisse vor, die das ganze System prägt, und sie lässt sich nicht verändern, ohne dass das ganze sinnlos würde. Man darf sich nicht täuschen über den archaischen und unflexiblen Charakter des Tonsystems, wenn auch umgekehrt die Fragen darüber an Aktualität nichts einbüßen, ob eine Entwicklung der Kunstmusik durch Komponisten aus fremden Kulturen möglich sei. Es ist nicht dasselbe, in der Bestimmung der geschichtsphilosophischen Grenze der Zeitgenössischen Kunstmusik auf die Realität außereuropäischer Musik zu stoßen, andererseits aus dieser selbst bereits Entwicklungstendenzen ableiten zu können. Aus der Perspektive der Geschichtsphilosophie haben fremde Musiksysteme eine große Entwicklungschance, aus der Perspektive der internen Beschreibung haben sie keine, weil der Ansatz ihrer Theorie, in deren Zentrum die reinen Intervalle stehen, kein kritisches Bewusstsein musikalischen Formen gegenüber zulässt.[2]

 

Es gilt also die Intervalle zu betrachten, im Bewusstsein, dass dieser Blick schon dadurch etwas Falsches bewirkt, dass er die Ebene der musikalischen Formen unerreichbar werden lässt (europäische Musik versteht nur, wer exemplarisch den Zusammenhang zwischen einem Kinderlied und der Sonatensatzform ins Auge fasst). Ganz in den Hintergrund gedrängt werden desgleichen in diesem Einleitungsabschnitt Fragen, die durch die Trägheit der Geschichte bedingt sind, also etwa die nach dem Primat von auf- oder absteigender Linie (Aroha/Avaroha), nach der Isolierbarkeit von Tetrachorden (als erster Tetrachord Poorvang c—f, als zweiter Uttarang g—c'), Fragen des Tonumfangs (1 Oktave bis 3 Oktaven in einem Stück) und der Tempi der Stücke einerseits, solche der phrasenhaften Tonverknüpfungen andererseits.

 

Das einfachste Verhältnis ist der Grundton und die Oktave (sa[3]); der Ton der höheren Oktave schwingt mit der doppelten Frequenz, also mit der doppelten Menge an Schwingungseinheiten. Das bedeutet, dass das, was in der einen Oktave geschieht, musikalisch identisch bleibt, wenn es in einer anderen geschieht – nur dann, wenn es die musikalische Intention ermöglicht, erhalten Ereignisse in verschiedenen Lagen eine unterschiedliche Bedeutung.[4] Ebenso eindeutig sind die Quint (pa) und die Quart (ma).

 

Die Qualität dieser Intervalle, die darin sich ausdrückt, dass sie sowohl leicht zu hören wie auch mathematisch leicht zu formulieren sind, hat in allen Erdteilen dazu verführt, musikalische Gegebenheiten (technische, ästhetische) auf sie zurückzuführen oder durch sie zu verhindern (formbildende[5]). Man hat bei dieser exponierten Frage der Kunst ein Beispiel dafür, wie nah das Denken dem mythischen Bann der Natur ausgeliefert ist, indem es dem scheinbar Natürlichen gehörig bleibt. Das künstlerische Ausprobieren von anderen Tonverhältnissen hat sehr schnell den Charakter des Ausbruchsversuchs aus dem mythologischen Denken, der in Gesellschaften, die keine Idee von Entwicklung dulden, als gesellschaftlicher Normenverstoß geahndet werden muss.

 

Folgt man Pythagoras und bestimmt die Intervalle der Oktave durch Quinten, so entsteht am Schluss eine gänzlich falsche, begrifflich die „Wolfsquinte“ (sie kommt da zu liegen, wo die aufsteigenden Quinten auf die fallend gelegten treffen, normalerweise bei des—as oder as—es), deren Töne auch in einzelnen Kombinationen mit anderen nicht gespielt werden können, wenn nicht die ganze Musik falsch werden soll. Doch ist diese Stimmung tragbar, wenn die Tonarten nah bei C-Dur liegen, also nur wenige Vorzeichen aufweisen und harmonisch nicht in die Region der Wolfsquinte modulieren. Die großen Terzen klingen hier vielleicht[6] nicht besonders schön; daraus abzuleiten, dass dies der Grund dafür wäre, dass eine Entwicklung in außereuropäischer Musik verunmöglicht wurde, ist deshalb falsch, weil im praktischen Gesang sowieso die Intervalle nicht mathematisch, sondern harmonisch angepasst realisiert erklingen (der Grund der Entwicklungshemmung liegt in der partikularen Rationalität des Mythos, und man muss sie trotz aller Ethnozentrismusgefahr benennen).

 

In Indien wurden die einzelnen Intervalle nie zensuriert, wie das in China, Korea und Japan der Fall war, die in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. die Pentatonik durch Staatsentscheide favorisierten und den Halbton verpönten. Die Lösung scheint darin bestanden zu haben, dass der einzelne Raga in sich geschlossen ein einzelnes ganzes Tonsystem zum Ausdruck bringen solle.[7] Zwar bleiben die Quarten und Quinten immer rein und dürfen nie anders gestimmt werden (Ausnahmen gibt es); aber in einem Stück kann es sein, dass gerade diese Intervalle eine ganz bedeutungsschwache Funktion haben, wodurch die Sekunden (re), Terzen (ga), Sexten (dha) und Septimen (ni) um so individueller werden. Sogar der europäische Diabolus in musica, der Tritonus (tivra ma) kann, wie im Raga Yaman, zentral sein, der in keiner Weise mathematisch ein einfaches Verhältnis auszudrücken vermöchte.[8]

 

Doch hat solche „Liberalität“ zur Konsequenz, dass das einheitliche System in so viele Systeme zerfällt, wie es Ragas gibt; dies wird durch die ästhetische Tatsache gefördert, dass ein Raga kein objektives Kunstwerk sein soll, sondern etwas wie ein soziales bzw. kommunikatives Ereignis, an dem das Publikum gerade so wichtig sinnhaft-kausal teilhat wie die interpretierenden KünstlerInnen. Gesellschaftspolitisch kommt das heute dadurch zum Ausdruck, dass ernsthaft gestritten wird, ob das Erbe schriftlich kodifiziert werden soll bzw. es nicht werden dürfe.[9]

 

Ohne sich im Gestrüpp der mehr schlecht als recht überlieferten Musiktheorien zu verheddern, können zwei Ansätze auseinandergehalten werden, die beide die indische Musik in ihrer Spezifität beschreiben. Der eine ist dominierend seit vorchristlicher Zeit, der zweite spätestens seit dem 16. Jahrhundert, durch die „offensichtliche Übernahme der durch arabische Theoretiker rezipierten pythagoreischen Stimmung“ (Zimmermann 1984, p. 260).

 

 

2. 1 Der phänomenologische Ansatz

 

Einer diatonischen Reihe aus sieben Tönen werden sieben Namen gegeben; sie haben sieben verschiedene Gewichtungen. Die Reihe kann in zwei Tetrachorde aufgeteilt werden, in den einen von c—f und den anderen von g—c' (bzw. G—c).[10] Werden in diesen einzelnen Tetrachorden Ganztöne gebildet, so erscheinen diese in zwei unterschiedlichen Größen, die offenbar auch von ungeübten Ohren wahrgenommen werden. Der Abstand zwischen d—e ist um eine Spur kleiner als der zwischen c—d; der Halbtonschritt zwischen e—f ist hinwiederum exakt die Hälfte des Intervalls zwischen c—d. In einer phänomenologischen, nichttheoretischen Perspektive wird also konstatiert, dass eine Regularität (zwei Ganztöne und ein Halbton) eine gewisse Irregularität aufweist. Diese soll bestimmt werden. Der Begriff dafür heißt Shruti, d. i. dasjenige, was als Irregularität vom Ohr wahrgenommen wird. Durch „mathematisch-heuristische“ Spekulation wird festgelegt, dass der große Ganzton aus vier Shrutis besteht, der Halbton aus zwei und der ominöse irreguläre Ganzton aus drei. Ist c der willkürlich festgelegte Grundton, und werden die zwei Tetrachorde durch einen großen Ganzton aneinandergekettet (nicht willkürlich, sondern weil der Abstand zwischen den naturreinen Intervallen Quart und Quint ein großer Ganzton ist), so ergibt sich folgende Reihe von Shrutis:

 

c + 4 (d) + 3 (e) + 2 (f) + 4 (g) + 4 (a) + 3 (h) + 2 (c') = 22 Shrutis.

 

Im ersten Tetrachord (c—f) bleiben die Positionen der Ganztöne konstant; im zweiten (g—c') können sie abgetauscht werden (a wird auf diese Weise verkleinert, ohne ein as zu werden). Diese Unterscheidung kennen wir nicht. Sie führt zu zwei bzw. drei Tongeschlechtern (Gramas[11]) in der heptatonischen Reihe von sieben Tönen.

 

1. Sadjagrama: c + 4 (d) + 3 (e) + 2 (f) + 4 (g) + 4 (a) + 3 (h) + 2 (c') = 22 Shrutis

 

2. Madhyagrama: c + 4 (d) + 3 (e) + 2 (f) + 4 (g) + 3 (a) + 4 (h) + 2 (c') = 22 Shrutis

 

3. Gandaragrama: nur als Legende existent.

 

Betrachtet man die Tetrachorde für sich, so können sie selbst in drei Modalitäten erscheinen, und diese sind mit den Tongeschlechtern aus der griechischen Antike identisch. Im diatonischen Tetrachord gibt es zwei Ganztöne (z. B. c—d—e—f oder c—des—es—f). Im chromatischen gibt es zwei Halbtöne (z. B. c—des—d—f oder c—e—es—f). Im enharmonischen, wie er im Morgenraga Gunakuli erscheint, gibt es ein Mikrointervall (z. B. c—des-—des—f).[12]

 

Werden Ragas beschrieben, so ist es nicht falsch, sie durch diese Geschlechter zu charakterisieren. Der ganze Raga, der immer aus zwei Tetrachorden besteht, kann dann sein: chromatisch-diatonisch, diatonisch, enharmonisch, diatonisch-chromatisch, enharmonisch-diatonisch usw.[13] Man stößt allerdings schnell auf eine theoretische Grenze, weil es gerade das Besondere der „Struktur“ eines Ragas ausmacht, dass sie sich nur in der Interpretation zu entfalten vermag. Es lässt sich vorstellen, dass es Lehrpersonen gibt, die in Tetrachorden denken, andere, die quasi ganzheitlich „Melodien“ und Rhythmen behandeln (vgl. van der Meer (1977), der seinen Aufenthalt als Schüler in Indien beschreibt) und andere, die in ihrem Unterricht schwergewichtig die Namen und Bedeutungen der einzelnen Shrutis zur Grundlage haben.[14]

 

 

2. 2 Der theoretisch vermittelte empirische Ansatz

 

Bei diesem Ansatz, der sich an Daniélou (1991a) mit seinen ominösen 66 Shrutis innerhalb einer Oktave orientiert, zielt alles daraufhin, die Mikrointervalle so zu begreifen, dass ihre Abstände zueinander identisch werden (die 22 gebräuchlichen Shrutis sind physikalisch verschieden groß, werden aber als Einheit betrachtet – nach dem ersten Vorgehen ist ein Raga, in dem alle 22 gespielt würden, unmöglich, nach dem zweiten wäre er theoretisch denkbar). Würde man im ersten Ansatz besser von Heterotönen sprechen (Strangways 1914, p. 127, Anm.), so ist hier der steife Begriff der Mikrotöne durchaus am Platz. Sein Zweck besteht darin, die Unterschiedlichkeit der praktizierten Shrutis notierbar und von einem theoretischen Tonsystem herleitbar und so verständlich zu machen. Daniélous Konstruktion einer Skala von 66 Shrutis beruft sich auf den antiken Autor Kohala aus dem 1. Jh. n. Chr., bei dem von 66 Shrutis die Rede ist, der jedoch keine Systematisierung präsentiert. Über den Verdacht eines Missverständnisses, das die Shrutianzahl innerhalb des gewöhnlichen Tonumfangs von drei Oktaven übersieht, schreibt der Autor, der lange Zeit als Director of the International Institute of Comparative Music Studies and Documentation in Berlin wirkte: „It has been suggested that the sixty-six intervals of Kohala may refer to the twenty-two shruti-s in three octaves. But this is not usually accepted.“ (Daniélou 1991a, p. 30)

 

Je nach Stimmung – rein, pythagoreisch oder temperiert – ergeben sich Fehler, die genügend groß sind, dass sie begrifflich bestimmt werden können. Seit Pythagoras heißen sie Komma, sind aber wie gesagt je nach Vorgehen verschieden groß. Bei Daniélou beträgt ein Komma ohne nähere Begründung 20 Cent. Zu diesen ist zu sagen, dass sie erstens abgerundet sind und zweitens aus einer Terzberechnung stammen, also eigentlich nicht mit Pythagoras in Verbindung gebracht werden sollten.[15]

 

Hat man die durch Quinten à la Pythagoras festgelegten 12 Töne, so werden im Abstand eines Kommas zu allen noch zwei nach oben und zwei nach unten hinzugefügt. Der Abstand zwischen der höchsten Variante eine Halbtones und der tiefsten eines nächsthöheren nennt Daniélou „disjunction“, dessen Größe er mit 32 Cent angibt und der, wenn halbiert, den Viertelton zwischen zwei Halbtönen bestimmt. Mit diesen Vierteltönen, die keine praktische Funktion haben, käme man 6 mal 12 auf 72 Mikrointervalle. Doch werden ohne Erläuterungen nicht alle Halbtöne mit derselben Anzahl von Kommatas angereichert. Die Ausnahmen sind folgende: des nur einmal erhöht, es nur einmal erhöht wie erniedrigt, fis nur einmal erhöht, as nur einmal erhöht wie erniedrigt, b nur einmal erhöht. 72 minus 7 gibt 65, und wenn der letzte Ton doppelt gezählt wird (als 1:1 und als 1:2), erreicht man die vom Autor postulierte Zahl der 66 Shrutis in einer Oktave.

 

Der Vorzug dieser Festlegung besteht darin, dass man sich nun überhaupt ein Bild der Tonverhältnisse machen kann, was beim ersten Ansatz ohne rettende Lehrperson nicht möglich ist. Zudem sind die so bestimmten Töne nachvollziehbar, jedenfalls dann, wenn die Ragas in der Notation sei es von Daniélou, sei es in der unten gefolgten Form in Abschnitt 5 vergegenwärtigt werden.[16]

 

 

2. 3 Die Ragas im System der nordindischen Thatas, der südindischen Melakartas und in scheinempirischen Systemen

 

Zum Verständnis des Systems der Ragas können zwei Hilfsannäherungen gemacht werden (je nach Autor gibt es verschiedene Systeme – es soll nur gezeigt werden, dass die Ragas bei aller Betonung ihrer Individualität, die weiter reicht als diejenige von Melodien, trotz allem latent einer umfassenderen Ordnung angehören, die zudem, was recht kompliziert scheint, ohne weiteres in einem nominalistischen Ragaverständnis abgestritten werden kann, ohne dass die musikalische Aufführungs- oder Lehrpraxis dadurch betroffen würde):

 

 

2. 3. 1 Bhatkhandes That-System

 

Werden die Mikrointervalle und Phrasierungseigentümlichkeiten der Ragas vernachlässigt, so werden die Parallelen zur Musiksystematik der antiken Griechen und des europäischen Mittelalters evident.[17]

 

Ein häufig benutztes Schema stammt von Strangways (1914), p. 47, Schreibweise der Ragas angepasst durch Deva (1980), p. 25:

 

„Weiße Klaviertasten“

Griech. Modus

Kirchentonart

Karnat. Melakarta

Hindust. That

H—h

mixolydisch

hypophrygisch (?)

Saman Gesang

 

E—e

dorisch

phrygisch

Hanumattodi

Bhairavi

A—a

hypodorisch

äolisch

Natabhairavi

Sindhubhairavi

D—d

phrygisch

dorisch

Karaharapriya

Kafi

G—g

hypophrygisch

mixolydisch

Hari-Kambhoji

Jhinjoti

C—c

lydisch

ionisch

Dhirasankara-

Bilaval

 

 

 

bharanam

 

F—f

hypolydisch

lydisch

Kalyani

Imankalyan

 

Hier wird die Gemeinsamkeit der altgriechischen, der europäisch-mittelalterlichen und der indischen Musik hervorgehoben, und ein Raga erscheint solchermaßen als Modus. Den Durchblick für indische Musik fördert eine solche Liste nicht, im Gegenteil. Immerhin können durch sie Indian-Freaks davon verschont werden, via Ragamusik zu Spezialisten für Gregorianik zu verkommen. Die Anspielung auf das Gemeinsame mit der Gregorianik hat den Sinn, die Besonderung der indischen Musik vor falscher Mystifizierung, die man in der eigenen Kirchenmusik weniger zu suchen geneigt ist, zu verschonen.

 

Das ganze That-System von Bhatkhande von Anfang des 20. Jh. umfasst mehr Reihen als die Kirchentonarten und ist im fünften Abschnitt enthalten, wo es in die statistische Auflistung einzelner Ragas eingeflochten ist.

 

 

2. 3. 2 Die karnatischen Melakartas

 

Das südindische System ist in Nijenhuis (1974), p. 45f abgedruckt sowie anhand von 2000 Ragas in Kaufmann (1991) beschrieben, wo die Töne ebenso wenig wie im oben vorangestellten That-System als Mikrotöne festgehalten werden. Hier seine Prinzipien:

 

Sa und Pa werden nicht alteriert.

 

Ma gibt es in zwei Formen.

 

Re, Ga, Dha und Ni gibt es in drei Formen.

 

Von den 72 Melas bzw. Hauptragas haben die ersten 36 Shuddha Ma (= F), die anderen 36 Tivra Ma (= Fis).

 

Der erste Raga hat die vier in drei Formen alterierbaren Töne in ihrer tiefsten Form: Des, Eses (= D), As, Bes (= A). Der Reihe nach wird der höchste Ton zuerst um einen halben erhöht, dann nochmals um einen; dasselbe geschieht mit dem nächst tieferen.

 

Des D As A

Des D As B

Des D As H

Des D A B

Des D A H

Des D B H

 

//

 

Des Es As A

 

//

 

 

Des E As A

 

//

 

D Es As A

 

//

 

D E As A

 

//

 

Es E As A

 

Die zweite Hälfte: 37-42, 43-48, 49-54, 55-60, 61-66, 67-72.

 

 

2. 3. 3 Empirisch-nominalistische Raga-“Systeme“

 

Werden die Mikrotöne festgelegt, so wird man zwar kein System erreichen, das für alle Schulen und Stile Geltung hat – aber empirisch ist es zumindest in einem Fall nicht falsch, nämlich da, wo die Messungen durchgeführt wurden.

 

Und doch handelt es sich normalerweise um einen bloßen Scheinempirismus, der durch die Angabe der Centmaße den Eindruck erweckt, es seien Messungen vorgenommen worden. Denn in der Tat ist das Vorgehen ein einfaches ethnomusikologisches Handwerk, das nur so lange kompliziert erscheint, als die Quellen nicht im Original verfügbar sind.

 

Denn in diesen Quellen werden nur die diatonischen Namen genannt und die Reinheit oder Nichtreinheit bezüglich Quinten innerhalb der Tonreihe angegeben.

 

Besteht ein Raga aus den Tönen sa, re, ga, tivra ma, pa, dha, ni, so kann er europäisch als c, d, e, fis, g, a, h, notiert werden. Gibt die Quelle nun an, g sei die reine Quinte und d—g, d—a, a—e, e—h und h—fis seien harmonische Intervalle, so sind die Mikrotöne exakt bestimmt als diejenigen des Ragas Yaman. Sagt aber die Quelle, d—g, e—a, e—h seien harmonisch, d—a und h—fis hingegen nicht, so handelt es sich um die Töne des Raga Yaman-Kalyan, sofern noch ein Shuddha ma, also ein f, das mit dem Grundton ein reines Intervall bildet, hinzugefügt wird.

 

Folgende Liste ist aus einem Buch entnommen; sie ist nicht das System der südindischen Musik, sondern eine der historisch überlieferten Raga-Ordnungen und in der Genauigkeit eine vergleichbare Sammlung von Ragas wie unten im fünften Abschnitt.

 

Zimmermann (1984), p. 264:

mela

sa

re

ga

ma

pa

dha

ni

mukhari

0

90

204

498

702

792

906

revagupti

0

90

384

498

702

792

906

samavarali

0

90

204

498

702

792

1086

todi

0

90

294

498

702

792

996

nadaramakri

0

90

294

498

702

792

1110

bhairava

0

90

384

498

702

792

996

vasanta

0

90

384

498

702

792

1086

vasantabhairavi

0

90

408

498

702

906

996

malavagauda

0

90

408

498

702

792

1110

ritigauda

0

90

204

498

702

792

996

abhiranata

0

204

294

498

702

792

1110

hammira

0

204

408

498

702

792

1110

suddhavarati

0

90

294

588

702

792

1110

suddharamakri

0

90

408

588

702

792

1110

sriraga

0

180

294

498

702

882

996

kalyana

0

204

294

678

702

792

1110

kambodi

0

204

384

498

702

906

1086

mallari

0

294

408

498

702

906

1110

samanta

0

294

384

498

702

996

1086

karnatagauda

0

294

408

498

702

882

996

desaksi

0

294

408

498

702

996

1110

suddhanata

0

294

408

498

702

996

1110

saranga

0

204

498

678

702

996

1110

 

 

Man sieht gut, dass die Quint (pa) immer gleich bleibt; wo die Quart Abweichungen enthält, handelt es sich um tivra ma, also um den Tritonus. Bemerkenswert ist der Sriraga, wo die Sekunde aus einem kleinen Ganzton besteht (180 C), wie sie in der arabischen Musik typisch ist, in der indischen, zumindest der Sitarmusik aber sehr sehr selten vorkommt, weil die Sekunde ja die Quinte der Bordunquinte ist. Auch die letzten sechs Ragas haben etwas Besonderes, nämlich weder eine kleine noch große Sekunde, dafür entweder eine große und eine kleine Terz oder eine Quarte, einen Tritonus und eine Quinte. Dieses südindisch inspirierte Ragasystem von Somanath aus dem 16. Jahrhundert, das mit nordindischen Ragas im Widerspruch steht, lässt sich ohne Schwierigkeiten wiederbeleben und in die Praxis umsetzen – doch ginge es auch ohne beeindruckende Centliste, die mikrointervallische Exaktheit nur vortäuscht.

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[1] Exakte Intervalle entstehen entweder durch Überblasen einer quantitativ bestimmbaren Luftsäule oder durch das Vibrierenlassen einer in der Länge messbaren Saite; im strengen Sinne gibt es nur wenige Arten musikalischer Instrumente: zwei.

[2] Musikalische Formen gibt es nur da, wo die Musik Sprachcharakter aufweist (in Adornos Sinn als urteilslose Synthesis). Dieser entsteht unter anderem durch Ausdruckshaftigkeit und durch Kadenzierung. Erstere wird in der archaischen Ästhetik verboten – in China soll die Stimme nicht menschlich klingen, in Indien soll der Raga meditativ eingefangen werden, im europäischen Mittelalter soll die menschliche Schöpfungskraft nicht sich mit dem Schöpfer messen usw. – letztere durch bewusste Techniken sabotiert: wie es in der Polyphonie den Satz gibt vom Vermeiden der Kadenzen („fugir le cadenze“), so gibt es in der indischen Musik die implizite Anweisung, die Leittonhaftigkeit der Töne zu vermeiden, die je nach Raga in ganz unterschiedlichen Wirkungszusammenhängen aufzutreten droht (man sagt dann, der Charakter der Töne bestünde nicht darin, wohin sie streben, sondern woher sie kommen).

[3] Die indischen Tonnamen sa re ga ma pa dha ni sind identisch mit den Solmisationsnamen do re mi fa so la ti.

[4] In einem Alap sind die Lagen sehr wichtig, damit die Intervalle um so bedeutungsgeladener, „meditations-signifikanter“ hervortreten, und sie sind es in komplexen europäischen Orchesterstücken.

[5] Der Zusammenhang zwischen der Fixierung der Intervalle durch das Verhaftetsein im Mythos und der Verhinderung der Entfaltung von Formen ist äußerst wichtig zu nehmen.

[6] Der unten von Daniélou (1991a) übernommene Raga Yaman ist im Gegensatz zum Raga Yaman-Kalyan gänzlich pythagoreisch; sein Zentralton ist eben die große pythagoreische Terz, und er klingt alles andere als getrübt, unrein oder sonstwie unschön.

[7] Das wäre ein nominalistisches Verständnis der Raga-Musik, dem ein naturalistisches entgegenstehen könnte, das von einem konsistenten und geschlossenen Tonsystem ausgehen würde. Es gibt Aspekte, die nur in einer nominalistischen Lesart artikuliert werden können; dennoch lässt diese sich nicht bruchlos aufrechterhalten, und zwar aus dem Grunde, weil die indische Musik nicht strikte zwischen ernsthafter und leichter unterscheidet.

[8] Die religiös-spektakuläre Bezeichnung erhielt das Intervall deswegen, weil es in der altgriechischen Musik benutzt wurde und deshalb die Kirchenästhetiker an Heidnisches erinnerte.

[9] Auf einer einfacheren, technischen Ebene betrifft der Streitpunkt nur die Frage, ob diese Art von improvisierender Deutung nicht auf das strenge Lehrer-Schüler Verhältnis angewiesen ist, wenn nicht wegen der finanziellen Abhängigkeit und dem Einfluss der Kulturindustrie solche schlechten Musikpraktiken weiter gefördert werden sollen, wie sie auch in Indien schon weit verbreitet sind (was in Texten schon des 19. Jh. beklagt wird). Der Streit ist nichts Harmloses, wenn man bedenkt, dass es auch in unserer Musikkultur bei Lichte gesehen nur wenige gute Musiker und Orchester gibt, obwohl der Durchschnitt keineswegs schlecht ist. Für extraordinäre Kreationen darf ruhig alles unternommen werden, auch wenn der zuweilen praktizierte Mystizismus fragwürdig ist, der dann auftritt, wenn Kunst als Ereignis verstanden wird und sich nicht der Idee des gebildeten, durchgebildeten Werkes verpflichtet sieht. (Zur Frage der Schriftlichkeit gehört auch die nicht weniger bedeutsame der technischen Reproduzierbarkeit: identisch wiederholte Raga-Rasa-Interpretation zerfällt zum didaktischen Exempel.) – Stellungnahmen zum Streit liegen nicht vor, sind u. U. in Indien gar nicht zu erwarten.

[10] Sobald man von Tetrachorden spricht, ist man inmitten des Phänomens des Denkens der Musiksysteme in Linien mit auf- oder absteigender Priorität. Alte indische Traktate orientieren sich an absteigenden Reihen (was vielleicht damit zu tun hat, dass man sich nur nach der menschlichen Stimme ausrichtete, ohne Rückgriff auf Blas- und Saiteninstrumente). Zur Strukturbeschreibung einzelner Ragas gehört die Unterscheidung zwischen aufsteigender Linie (Aroha), in der oft charakteristische Töne nicht gespielt werden dürfen, und der absteigenden (Avaroha).

[11] Von den drei Gramas Sadja-, Madhyama- und Gandaragrama, deren Namen auf den Grundton verweisen, war das dritte in der ersten Zeit der indischen Musiktheorie, im ersten Jahrhundert vor oder nach Chr., bereits Legende; das zweite ist im systematischen Sinn nicht im Gebrauch, praktisch aber doch. Es ist nicht möglich, die seltsam gespielten Shrutis auf die Tongeschlechter zurückzuführen, obwohl sie in ihnen ihre Erklärung finden sollten.

[12] Im Raga Gunakuli werden aufsteigend und absteigend nicht dieselben Töne gespielt, so dass insgesamt drei verschiedene des erklingen, aber kein d, kein es, kein e. Obwohl auf der Sitar die Töne gut gespielt werden können und man ihnen ebenso leicht nachlauschen kann, hat das Gehirn Mühe, dieser Musik zu folgen, bewegt man sich doch ohne Orientierungshilfen in unbekannten archaischen Tiefen.

[13] Unklar ist die Bestimmung für pentatonische Ragas; Daniélou (1991a) charakterisiert auch diese nach Tetrachorden. Sowohl die pentatonischen Reihen wie das Denken in Tetrachorden sind archaisch – und doch wollen diese zwei Sachen sich nicht miteinander vereinbaren lassen.

[14] Durch einen der häufigen Abschreibungsfehler sind heute die Namen und die Bedeutungen der Shrutis nicht mehr diejenigen vor zweitausend Jahren. Zu diesem Phänomen gehört auch der terminologische Widerspruch, dass das Versetzungszeichen für fis (tivra), das als Halbton zwei Shrutis umfasst, ein alter Name eines – des ersten – Shrutis wäre. Daniélou erfasst die Namen und die Bedeutungen der Shrutis empirisch-spekulativ. Man müsste seine Angaben durch die Vertreter verschiedener Schulen kommentieren lassen.

[15] Es ist bedauerlich, dass gerade bei diesen scholastisch-spitzfindigen Angelegenheiten begrifflich geschummelt wird. Das pythagoreische Komma beträgt 23,46 Cent, das syntonische oder diatonische 21,506 Cent; Daniélou rundet sein Komma auf 20 Cent ab, stellt Berechnungen an für 21,506 Cent und nennt das Ganze pythagoreisch.

[16] Auch mit dem elektronischen Hilfsgerät lässt sich die Sitar nicht auf mehr als 2 bis 5 Cent genau stimmen; aber das ist schon viel, und die Ragas werden in der Tat viel intensiver, wenn die präzisierten Shrutis gewählt werden als die Halbtöne mit arbiträren Variationen. Es erscheinen die Festlegungen Daniélous keineswegs falsch, nur theoretisch nicht gänzlich nachvollziehbar, was bloß zum Teil dem schlecht überwachten Druck zugeschrieben werden kann.

[17] Es gehört noch an diese Stelle die Beobachtung, dass es bei SängerInnen die Tendenz gibt, die Intervalle der Ragas nicht nach der Tradition zu singen, sondern aus den Obertonreihen der Tambura herauszuhören und der Kraft dieser normierten Töne nachzugeben. Das heißt, dass es in der indischen Musik immer schon die auseinanderstrebenden Richtungen gegeben hat, entweder die Shrutis zu betonen oder die Reihen. Nimmt man noch die Unterscheidungen zwischen nord- und südindischer Musik hinzu, so hat die letztere zwar mehr verschiedene Modi, unterdrückt aber gerade deren Besonderheit, indem sie in festen Kompositionen gespielt werden, in denen zudem die Einzeltöne durch Ornamentierung nahezu unkenntlich werden. Folglich sind solche Systematisierungen ausschließlich in Einleitungen platzierbar, deren theoretische Kritik in Form von Fragen an die indische Musik noch aussteht.

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